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Ein konsequenter Lebensweg

Lutz Taufer erzählt, wie er vom militanten Untergrund in die brasilianische Favela gelangte

  • Michael Kegler
  • Lesedauer: 3 Min.

Aus der Subjektivität einer Autobiografie eine Epoche begreifen zu wollen, birgt Risiken, die mit Eitelkeit und Rechtfertigungszwängen zu tun haben. Nur selten begegnet man einem solchen Buch, das man den Kindern, Freunden und Bekannten in die Hand drücken will mit den Worten: »Lies das! Unbedingt!« Lutz Taufers Buch ist ein solcher Glücksfall. Gerade wegen der durchaus nicht uneitlen Perspektive, aus der er sich zugleich schonungslos zum Objekt einer brillanten Erzählung macht, in der einer aus Gründen gehandelt hat, wie er heute nicht mehr handeln würde. Und auch genauestens erklären kann, warum.

Lutz Taufer: Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela.
Assoziation A, 286 S., br., 19,80 €

Lutz Taufer ist heute - um es mit den Worten des brasilianischen Schriftstellers Luiz Ruffato zu sagen - »einer der sanftmütigsten Menschen, die mir je begegnet sind«. Vor mehr als vierzig Jahren überfiel dieser Mensch mit einem RAF-Kommando und einer Tasche voll Sprengstoff die deutsche Botschaft in Stockholm. Vier Menschen starben. Ohne, dass sein Name je auf den zur Ikonografie der 1970er Jahre gehörenden Fahndungsplakaten stand, ging er mehr oder weniger direkt ins Gefängnis.

Ob die 25 Jahre Haft der Kulminationspunkt dieser Biografie sind oder doch eher die Zeit, in der sich der einstige Kämpfer nach seiner Entlassung in brasilianischen Elendsvierteln engagierte, bleibt offen. Die Motivation jedenfalls, die Lutz Taufer nun praktische (und nicht minder politische) Sozialarbeit leisten ließ, ist letztlich dieselbe, die ihn seinerzeit in den bewaffneten Untergrund führte. Dazwischen liegen Jahrzehnte und ein historischer Prozess, dessen Schilderung aus der Sicht eines Gefängnisinsassen besondere Intensität gewinnt.

Isolation - Hungerstreik - manchmal ein Interview - Agitation - Isolation - Hungerstreik. So sah es von außen aus. Die Innensicht ist erschütternd: Wie sich im Knast die Verhältnisse einer Gesellschaft verdichten! Was heißt Repression, wenn die Wärter mit im selben Trakt inhaftierten Nazis paktieren. Was heißt es, wochenlang von Informationen abgeschnitten zu sein, bis auf den eigenen Körper komplett wehrlos. Was heißt Solidarität unter prekärsten Verhältnissen? Was heißt überhaupt: Solidarität?

Lutz Taufer erinnert sich unprätentiös, konsequent in der ersten Person und lässt nie Zweifel an seiner auch lückenhaften Subjektivität, und das macht dieses Buch so besonders. Wie ein Schriftsteller die Welt erklären kann, wenn er ausschließlich von seinem Dorf erzählt, verdeutlicht er so vieles, was uns noch heute bewegt. Die Vorgeschichte, in teilweise emblematischen Anekdoten geschildert, die ihn aus der westdeutschen Provinz in den Widerstand und schließlich die RAF führte, ist nicht minder bemerkenswert und zugleich so erschreckend normal: Muff, Kriegs- und Schuldtrauma der Elterngeneration, die nicht reden, sich nicht erinnern will - genau das Gegenteil von dem, was Lutz Taufer jetzt tut. »Es gab einige ältere Lehrer, die als Soldaten im Krieg gewesen waren. (…) Der Musiklehrer fing mitten im Unterricht an zu weinen. (…) Wir saßen peinlich berührt da.« Psychologie ist ein großes Thema. Befreiung führt aber auch über das US-amerikanische Kino, Jazz, die Revolte einer Generation.

Lutz Taufers Biografie ist ein sehr aktuelles Buch. Es erscheint - als Biografie eines Scheiterns mit dem Versuch des bewaffneten Aufstands in den Metropolen - zu einem Zeitpunkt, da in Brasilien, wo er den Weg der Sozialarbeit wählte, erst kürzlich der zaghafte Versuch einer friedlichen Verbesserung der Verhältnisse kalt weggeputscht wurde und in Deutschland das untote Nazitum wieder die öffentliche Debatte bestimmt. Schon wieder stellt sich, wie immer, die Frage nach dem richtigen Handeln. Jemanden zu erleben, der gehandelt hat (wenn auch in der Rückschau nicht immer richtig), ist gut. Wichtig. Diese Autobiografie ist viel mehr als ein Zeitdokument.

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