Hilfsorganisationen fordern Familiennachzug für Flüchtlinge

Diakonie und Caritas rufen Union, FDP und Grüne auf, in Jamaika-Gesprächen von weiterer Begrenzung abzurücken / Innenministerium nicht in der Lage Zahlen vorzulegen

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Hannover. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas rufen Union, FDP und Grüne auf, in ihren Sondierungsgesprächen von einer weiteren Begrenzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge abzurücken. Es sei humanitär und integrationspolitisch »fatal, den Familiennachzug in Zusammenhang mit einer Aufnahmebegrenzung zu diskutieren«, sagte Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland.

Nach Schätzungen des Auswärtigen Amtes würden bis Ende 2018 etwa 100.000 bis 200.000 Menschen aus Syrien und Irak einen Antrag auf Familiennachzug stellen, so Neher: Für Deutschland sei die Aufnahme und Integration der schutzsuchenden Menschen in dieser Größenordnung zu bewältigen.

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie wies Darstellungen von Unionspolitikern, wonach Deutschland vom Familienzuzug überfordert wäre, zurück. Die hohen Prognosen in diesem Zusammenhang hätten sich nicht als realistisch erwiesen, es gebe keine sachlich tragende Begründung für eine weitere Aussetzung, sagte Lilie. Auch die Kommunen in Deutschland könnten den Nachzug der Familienangehörigen meistern.

In der diakonischen Beratung zeige sich täglich, dass die Aussetzung des Familiennachzugs zu erheblichen humanitären Härten für die Betroffenen führe, erklärte der Präsident der evangelischen Diakonieverbands. »Die Ungewissheit darüber, wie es ihren Angehörigen geht und ob sie noch leben, das ständige Warten auf Nachrichten macht Geflüchtete krank und bindet ihre Kräfte«, sagte er: »Wer Angst um seine Familie hat, hat keine Energie, sich auf Sprachkurse, Ausbildung und Arbeit zu konzentrieren.«

Besonders betroffen seien Jugendliche, erklärte Lilie. »Die Diakonie erlebt in ihren Einrichtungen der Jugendhilfe immer wieder unbegleitete Minderjährige, die an den gestellten Anforderungen zu zerbrechen drohen«, sagte Lilie.

Die Frage des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus zählt zu den Hauptstreitthemen in den Gesprächen zwischen Union, FDP und Grünen. Während vor allem die CSU die am 15. März 2018 auslaufende Beschränkung verlängern möchte, fordern besonders die Grünen, dass Flüchtlinge fortan enge Familienangehörige zu sich holen können. Betroffen sind vor allem Syrer, die in den Jahren 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind.

Innenministerium sieht sich außer Stande Zahlen vorzulegen

Das Bundesinnenministerium sieht derweil nicht in der Lage, den absehbaren Familiennachzug von syrischen und irakischen Flüchtlingen zu beziffern. »Wissenschaftlich belegbare Zahlen, wie viele Familienangehörige der Kernfamilie im Schnitt zu einem in Deutschland anerkannten international Schutzberechtigten nachziehen, gibt es nicht«, erklärte das Innenressort auf eine schriftliche Frage der LINKE-Abgeordneten Ulla Jelpke. Jelpke warf dem Innenressort vor, es stelle sich »dumm« bei diesem zentralen Thema, das auch in den Sondierungsgesprächen für eine mögliche Jamaika-Koalition ein größerer Streitpunkt ist.

In der Antwort des Innenressorts heißt es weiter, Nachzugsfaktoren könnten nicht mit der Zahl der erteilten Visa zum Familiennachzug begründet werden. Die Zahl solcher Visa sei auch nur aussagekräftig mit Blick auf jene, die von ihrem Zuzugsrecht tatsächlich Gebrauch machten. Auf die Frage nach der Zahl der Familienangehörigen, die ab März 2018 wieder zu subsidiär Geschützten nachkommen könnten, antwortete das Ministerium nicht.

Asylsuchende, die in Deutschland Schutz bekommen, dürfen Ehepartner und minderjährige Kinder zum Teil nachholen. Andersherum dürfen auch anerkannte minderjährige Flüchtlinge ihre Eltern hinterherholen. Für eine bestimmte Gruppe mit eingeschränktem Schutzstatus, subsidiär Geschützte, hatte die Große Koalition den Familiennachzug im März 2016 beschränkt und bis März 2018 für zwei Jahre ausgesetzt.

Die Union will bei dieser Gruppe auch über diesen Termin hinaus verbieten, dass enge Familienangehörige nach Deutschland nachziehen. Die Grünen - mit der FDP möglicher Partner der Union in einer Jamaika-Koalition - wollen den Familiennachzug für diese Gruppe dagegen wieder erlauben.

Das Auswärtige Amt hatte vor einigen Tagen erklärt, derzeit bemühten sich rund 70.000 Syrer und Iraker um einen Familiennachzug zu Verwandten in Deutschland. Von Anfang 2015 bis Mitte 2017 hatte das Amt rund 102.000 Visa zum Familiennachzug für Syrer und Iraker erteilt. Nach Schätzung des Ministeriums könnten bis 2018 etwa 100.000 bis 200.000 weitere hinzukommen - inklusive der Angehörigen von subsidiär Geschützten, die nach derzeitiger Rechtslage ab März 2018 wieder Familiennachzug beantragen könnten.

Am Donnerstag hatte auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) - die Denkfabrik der Bundesagentur für Arbeit - eine Studie in Kooperation mit der obersten Migrationsbehörde BAMF vorgelegt und Prognosen angestellt. Kalkuliert wird hier, zu den 2015 und 2016 nach Deutschland eingereisten Flüchtlingen könnten 100.000 bis 120.000 Ehepartner und Kinder nachziehen. Das IAB bezifferte das Nachzugspotenzial bei der größten Gruppe der Syrer auf etwa 0,4.

Jelpke hat angesichts dieser Zahlen kein Verständnis dafür, dass sich das Innenressort nicht zu einer Auskunft imstande sieht. Dass zu der Frage der subsidiär Geschützten gar keine Antwort komme, sei eine »Unverschämtheit«. »Es wäre unverantwortlich und ein Ausweis absoluter Inkompetenz, wenn das Bundesinnenministerium zu dieser zentralen politischen Frage keine Einschätzung hätte«, sagte sie. »Doch wahrscheinlicher ist, dass sie hierzu keine Auskunft geben möchte: Es würde sich nämlich herausstellen, dass die Zahl der Betroffenen gar nicht so groß ist, wie vielfach angenommen wird.« Agenturen/nd

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