Die Decke am Nordpol wird dünner

Messungen einer Inuit-Crew belegen unterschiedliche Bildungsraten beim Seeeis und zeigen, dass nicht nur dessen Fläche schrumpft. Von Gert Lange

  • Gert Lange
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Bundesrepublik gibt Jahr für Jahr weit über hundert Millionen Euro aus, um in Polargebieten zu forschen. Warum? Weil Klima und Natur, unser gesamtes Leben von der Beschaffenheit der Polkappen abhängen. Eisflächen reagieren sehr empfindlich auf Veränderungen. Sie sind gewissermaßen ein Sensor für das Klima auf der Erde. So auch das Packeis, das den größten Teil des Polarmeers im hohen Norden bedeckt.

Wie stark die beständige Eisdecke um den Nordpol geschrumpft ist, also jene Fläche, die noch im Sommer weiß bleibt, darüber ist in den letzten Jahren viel geschrieben worden. Die Satellitendaten sind untrüglich. Der jüngste Bericht des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) hält fest, dass das arktische Meereis seit 1980 um 3,5 bis 4,1 Prozent pro Jahrzehnt abgenommen hat. Doch die flächenmäßige Ausdehnung ist nur die halbe Wahrheit. Kaum weniger wichtig sind die Eisdicke und deren Verteilung. Die allerdings lassen sich bisher nicht einfach aus Satellitenbildern ablesen.

Wer wissen will, wie mächtig sich die frostige Haut in unterschiedlichen Regionen des Arktischen Ozeans herausbildet, muss tatsächlich aufs Eis, und er muss erst einmal dorthin kommen. Derartige Messungen sind seit Beginn der 1990er Jahre eine Spezialität des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung (AWI) Bremerhaven. Die AWI-Daten belegen: Auch bei der durchschnittlichen Eisdicke in der Arktis gibt es über die letzten zwanzig Jahre einen Negativtrend. Der sommerliche Mittelwert hat sich seit 1999, als er noch über zwei Meter lag, kontinuierlich verringert. Nur 2004 gab es einen kleinen Zuwachs, und 2007 wurde das (bisher) absolute Minimum erreicht: 90 Zentimeter.

Aber die durchschnittliche Eisdicke sagt nichts über regionale Entwicklungen aus. Die letzte Messkampagne im April dieses Jahres im Kanadischen Archipel hat da überraschend deutlich gezeigt, dass eine zu gleicher Zeit unter gleichen Bedingungen gebildete Festeisdecke erstaunlich variabel sein kann. Insgesamt 200 Kilometer Eisdecke zwischen Baffin- und Bylot-Insel wurden mit einem elektromagnetischen Sensor vermessen. Auf der nördlichen Route war das Eis zwei Meter, an etwas südlicher gelegenen Stellen nur etwa 30 Zentimeter dick. Gewöhnlich wird das Schwinden des Eises auf die erhöhten atmosphärischen Temperaturen zurückgeführt. Christian Haas, Programmleiter für die Messungen, weist jedoch darauf hin, dass unterschiedliche Eisdicken auch durch Winde und somit die Drift des Eises verursacht werden, vor allem aber durch die Strömungsverhältnisse unter dem Eis, durch den Wärmefluss im Wasser. Diese Einflüsse sind noch wenig erforscht.

Die Messungen im Eclipse-Sound haben Inuit ausgeführt. Haas geht seit 2011 regelmäßig in die Dörfer der Inuit, um an den Forschungen interessierte Bewohner einzuweisen und zu beraten. Tagweite Strecken werden dann mit Schneemobilen und angehängtem Messschlitten abgefahren. Die Ortung geschieht über GPS. Wenn die Inuit wieder in ihren Häusern sind, übertragen sie die Daten via Satellit ans Bremerhavener Institut.

»Wir müssen dort messen, wo es am interessantesten und am wichtigsten ist«, sagt Haas. Zum Beispiel in der Beaufortsee. Sie ist der westliche Anfang der Nord-West-Passage für die Schifffahrt, die den Atlantik mit dem Pazifik verbindet. Dort gibt es viel mehrjähriges Eis. Während einer Messkampagne per Flugzeug, bei der der Magnetsensor an einem 80 Meter langen Seil vom Forschungsflugzeug »Polar 5« über weite Eisflächen geführt wurde, überraschte die Wissenschaftler, dass nach zwei Jahren mit dünnem Eis eine zwischen drei und vier Meter dicke Eisdecke angetroffen wurde. Im Mittel ist das Eis zwar auf lange Sicht dünner geworden, aber es gibt starke Abweichungen. Eine Vorhersage der Schwankungen interessiert nicht nur Reeder, sondern auch Ölkonzerne, die hier - bisher vergeblich - nach Öl suchen. Den Eisforschern geht es allerdings neben dem Verständnis der Eisbildung vor allem um Grundlagen für bessere Regeln zum Schutz der Umwelt.

Zum starken Aufschichten alten Eises kommt es meist durch eine besonders intensive Drift im Winter. Dazu muss man wissen, dass sich die beiden großen Driftsysteme des arktischen Eises wesentlich unterscheiden. Das über dem ostsibirischen Schelf gebildete Jungeis treibt im sogenannten Transpolarstrom südlich des Nordpols Richtung Grönland, wo es schmilzt. Ein Teil davon gerät in den sogenannten Beaufort-Wirbel, vereint sich mit dem vor Kanada, Alaska und der Tschuktschen-Halbinsel entstehenden Eis und zirkuliert im Uhrzeigersinn zwischen diesen Küsten. Vor der nördlichen Inselkette Kanadas staut sich dieses Eis. Dort liegt der älteste, mächtigste Eispanzer der Arktis, bis zu sechs Meter dick; bisher konnte noch kein Eisbrecher in dieses Gebiet vordringen.

»Das Dramatische ist eigentlich die Abnahme der Fläche alten Eises am Gesamtvolumen, worüber kaum jemand spricht«, erklärt Christian Haas. »Während der letzten Kampagne sind wir mit einem ›Twin Otter‹-Flugzeug ein Dutzend Mal auf Schollen gelandet, um die Eisdicken auf einer Linie zwischen Ellesmere-Island und dem Nordpol zu sondieren. Das waren jeweils Märsche über mehrere Kilometer pro Station. Im Süden gab es nur noch wenige Stellen mit dickem, bis zu sechs Jahre altem Eis. Dann reduzierte sich die Dicke auf weniger als zwei Meter, und schon nördlich des 87. Breitengrades kamen wir in einjähriges Eis, wie es vom sibirischen Schelf herangetrieben wurde.«

Haas ist der Meinung, dass in dreißig oder vierzig Jahren der Nordpol im Sommer eisfrei sein wird. Wie diese Reduzierung vor sich geht, kann nur in Computermodellen errechnet werden, deren Datenbasis allerdings noch erweitert werden muss.

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