Luther, Kopernikus und die Folgen

Die Reformation legte einen wichtigen Grundstein für den Aufstieg der modernen Wissenschaften.

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 7 Min.

Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit.« So beschrieb Friedrich Engels die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts anbrechende Neuzeit, in der sich - von den Städten Norditaliens ausgehend - die Renaissance entfaltete. Der Fernhandel blühte, Johannes Gutenberg erfand den Buchdruck mit beweglichen Metalllettern, Christoph Kolumbus »entdeckte« Amerika. Und noch etwas bildete sich zur damaligen Zeit heraus: die moderne Naturforschung, die einzige, die es laut Engels im Gegensatz zur Naturphilosophie der alten Griechen sowie der Wissenschaft der Araber zu einer umfassenden und systematischen Entwicklung brachte.

Parallel dazu gelang es dem forschenden Geist, sich immer mehr vom übermächtigen Einfluss der Kirche zu befreien. Einen tiefen Einschnitt markierte hierbei das Jahr 1543: Nach langem Zögern veröffentlichte Nikolaus Kopernikus sein Werk »De revolutionibus orbium coelestium« (Über die Umschwünge der himmlischen Kreise), in dem er die Grundsätze des heliozentrischen Weltsystems formulierte. Der Legende nach gelangte das erste gedruckte Exemplar des Buches gerade noch rechtzeitig in die Hände seines Verfassers; kurz darauf starb Kopernikus. Bei Engels heißt es dazu: »Der revolutionäre Akt, wodurch die Naturforschung ihre Unabhängigkeit erklärte und die Bullenverbrennung Luthers gleichsam wiederholte, war die Herausgabe des unsterblichen Werks, womit Kopernikus, schüchtern zwar und sozusagen erst auf dem Totenbett, der kirchlichen Autorität in natürlichen Dingen den Fehdehandschuh hinwarf.«

Dass Engels Luther und Kopernikus hier in einem Atemzug nennt, ist sicherlich kein Zufall. Denn der Wittenberger Reformator sprengte nicht nur die Einheit der Kirche. Er gewährte dem Individuum auch mehr spirituelle Freiheiten, die viele nutzten, um aus der Enge des katholisch geprägten Zeitgeistes auszubrechen. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel erklärte die Lutherische Reformation gar zur »Hauptrevolution der Neuzeit« und begründete dies wie folgt: »Das Prinzip des freien Geistes ist hier zum Panier der Welt gemacht, und aus diesem Prinzipe entwickeln sich die allgemeinen Grundsätze der Vernunft.«

In Luthers Absicht lag eine solche Entwicklung gewiss nicht. Als er sich aufmachte, die Kirche zu erneuern, verfolgte er ganz andere Ziele. Die Reformation sei großenteils eine rückwärtsgerichtete Bewegung innerhalb des Christentums gewesen, meint der US-amerikanische Philosoph und Historiker Richard Tarnas. Sie habe sich gegen den griechischen und römischen Hintergrund der Renaissancekultur ebenso gerichtet wie gegen die scholastische Philosophie. Tatsächlich ließ Luther nur noch eine Quelle theologischer Autorität gelten: die Bibel. Die Kirche wurde als Vermittlerin zwischen Himmel und Erde nicht mehr benötigt. Gott allein entscheidet nach Luther über das Seelenheil, der Mensch kann sich diese Gnade nicht erkaufen. Und er ist auch nicht in der Lage, Gottes Plan in dessen Werken zu durchschauen. »Luther hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber den frühen scholastischen Versuchen, Verstand und Glauben im Rahmen einer rationalen Theologie miteinander zu verbinden«, schreibt Tarnas in seinem originellen und ideenreichen Buch »Das Wissen des Abendlandes«. Auch von den ins Christentum eingedrungenen Elementen des Hellenismus habe sich Luther distanziert. Insbesondere kritisierte er die Vorstellung, dass die Natur von göttlichem Geist durchdrungen sei und zwischen weltlichem Verstand und christlicher Wahrheit eine direkte Verbindung bestehe.

Luthers Rückbesinnung auf ein »unverfälschtes Christentum« hatte Folgen, die weit über den von der Reformation gesteckten Rahmen hinausreichten. Indem er zum Beispiel Schöpfer und Schöpfung nachträglich trennte, »gestattete er dem modernen Denken, sich der Welt mit einem neuen Sinn für den rein diesseitigen Charakter der Natur zu nähern«, so Tarnas. Das heißt, Luther nahm der Welt den Zauber der immanenten Göttlichkeit und ermutigte die Menschen, ihr Denken nicht mehr an Autoritäten auszurichten, sondern alles Menschliche einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Damit machte er den Weg frei für die Erforschung der Natur.

Sobald wissenschaftliche Erkenntnisse jedoch der Bibel widersprachen, hielt der Reformator dagegen. Der Überlieferung nach missfiel ihm vor allem das heliozentrische Weltsystem, demzufolge nicht die Sonne um die Erde kreist, sondern die Erde um die Sonne. 1539 griff er Kopernikus scharf an: »Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren. Aber wie die Heilige Schrift anzeiget, so hieß Joshua die Sonne stille stehen und nicht das Erdreich.« Erstaunlich ist der Zeitpunkt der Äußerung, denn der lag noch vor der Veröffentlichung von Kopernikus’ Buch. Eine Erklärung hierfür gäbe es: Der in Wittenberg lehrende Mathematiker und Lutheraner Georg Joachim Rheticus war ein glühender Anhänger des Heliozentrismus. Als solcher reiste er 1539 zu Kopernikus nach Frauenburg (heute Frombork) und überzeugte diesen, sein epochales Werk für den Druck fertigzustellen.

Luthers Mitstreiter Philipp Melanchthon hielt das kopernikanische Weltsystem schlicht für eine »absurde Vorstellung«. 1541 beschwerte er sich in einem Brief über den anmaßenden Frauenburger Astronomen, »der die Erde bewegt und die Sonne festsetzt«. Auch der in Genf wirkende Reformator Johannes Calvin stand dem Heliozentrismus ablehnend gegenüber. Im Anschluss an ein Zitat aus der Bibel, wonach die Welt erschaffen sei, um nicht bewegt zu werden, fragte er: »Wer will es wagen, die Autorität von Kopernikus über die des Heiligen Geistes zu stellen?«

Um die Verbreitung von »De revolutionibus« in Deutschland nicht zu gefährden, hatte der protestantische Theologe Andreas Osiander an dem Werk einige Veränderungen vorgenommen, die von Kopernikus nicht autorisiert worden waren. So tilgte er eigenmächtig manche Passagen und fügte andere hinzu. Außerdem verfasste er ein anonymes Vorwort, in dem es hieß, dass der Heliozentrismus nur ein Rechenmodell sei und nicht den Anspruch erhebe, die Realität darzustellen. In dieser Form wurde das neue System auch von Melanchthon akzeptiert.

Was aber tat Luther? Von ihm sind keine weiteren Äußerungen über Kopernikus bekannt. Und die oben zitierte Bemerkung aus dem Jahr 1539 ist den sogenannten Tischreden entnommen, die Gäste im Hause Luthers aufgezeichnet hatten. Gedruckt wurden diese 1566 von Johann Aurifaber, der allerdings erst 1545 zu Luthers Kreis gestoßen war. Im Tagebuch des 1539 bei den Tischreden tatsächlich anwesenden Theologen Anton Lauterbach findet sich indes kein Hinweis auf Kopernikus.

Der Physiker und Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert hält die Luther zugeschriebene Kopernikus-Schelte daher für eine »handgreifliche Geschichtslüge«. In Wirklichkeit, so Kleinert, sei der Antikopernikanismus Luthers im 19. Jahrhundert erfunden worden. Während des Kulturkampfes zwischen Kaiserreich und katholischer Kirche hätten die Historiker Franz Beckmann und Franz Hipler den Wittenberger Reformator zu einem Gegner des neuzeitlichen Weltbildes stilisiert, um den in Bedrängnis geratenen Katholizismus zu entlasten. 1884 schließlich habe der Gymnasiallehrer Leopold Prowe das Luther-Zitat in seine zweibändige Kopernikus-Biografie aufgenommen und ihm so gleichsam offizielle Weihen verliehen.

Selbst wenn es zutrifft, dass Luther kein verbürgtes Wort über Kopernikus verlor, bedeutet das nicht, dass er dessen Lehre gebilligt hätte. Womöglich schloss er sich der Meinung Melanchthons an und sah im Heliozentrismus nur ein neues Modell zur Berechnung der Planetenbewegung. Bedenkt man jedoch, welch hohen Anspruch er an die Wahrhaftigkeit der Bibel stellte, konnte Luther eigentlich gar nicht anders als das bereits damals von vielen für Realität genommene kopernikanische Weltsystem zu verwerfen.

In der Person Luthers werde schlaglichtartig das eigentümliche Paradox der Reformation deutlich, meint Richard Tarnas, »konservative religiöse Reaktion einerseits, radikal freiheitliche Revolution andererseits«. Wenn es jedoch ernst wurde mit der Freiheit, knickte Luther ein. Man denke nur an seine Aufrufe im Bauernkrieg oder seinen ätzenden Antijudaismus. Calvin stand Luther nicht nach. Weil er den französischen Arzt Michael Servet, den Entdecker des inneren Blutkreislaufs, für einen Ketzer hielt, ließ er ihn 1553 auf dem Scheiterhaufen verbrennen.

»Es ist eine merkwürdige List der Geschichte«, schrieb einst der DDR-Historiker Ernst Engelberg, »dass zwei im Grunde ihres Herzens konservative Männer wie Luther und Calvin - wobei letzterer aristokratischer war als ersterer - die Welt revolutionär aufwühlten.« Was Engelberg hier vornehmlich auf das Sozial- und Wirtschaftsleben bezog, gilt nicht minder für die Naturwissenschaften, die mit Johannes Kepler, Galileo Galilei und Isaac Newton im 17. Jahrhundert einen ungeahnten Aufschwung erlebten. Und dieser war nicht nur mental an die von der Reformation ausgehenden Impulse gekoppelt, sondern auch geografisch. Denn die religiöse Spaltung Europas in zwei getrennte Lager, die sich unversöhnlich gegenüberstanden, bot Gelehrten aus katholischen Ländern die Möglichkeit, die Seite zu wechseln und so ihre Werke vor der Verdammnis zu bewahren.

Als Beispiel sei hier der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes genannt, der, um freier forschen zu können, 1629 in die protestantischen Niederlande übersiedelte. Hier hatte zumindest die Inquisition keine Macht und es konnten Bücher gedruckt werden, die unter katholischer Herrschaft verboten waren. Davon profitierte zuletzt auch Galilei, der nach seiner Verurteilung durch die Römische Inquisition unter Hausarrest stand. Während dieser Zeit vollendete er seine berühmten »Discorsi«, ein Buch über die mechanische Bewegungslehre und die Fallgesetze, das in Italien niemals hätte erscheinen können. Galilei ließ das Manuskript deshalb außer Landes bringen. Das Werk, das heute als Geburtsurkunde der modernen Physik gilt, erschien 1638 im Verlag von Louis Elsevier in Leiden. Sechs Jahre später wurden dort auch »Die Prinzipien der Philosophie« von Descartes veröffentlicht.

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