88 Jahre danach

  • Lesedauer: 2 Min.

Die Verhandlungen über die sogenannte Jamaika-Koalition sind in dieser Woche ja recht zäh verlaufen. Nicht ausgeschlossen, dass wir mit einer CDU/SPD-Regierung noch lange leben müssen. Das ist das Schlechteste nicht, wird man in den Verwaltungen des Bundes denken, denn was brauchen wir schon Politiker, die uns das Regieren schwer machen. Unter den Bürgern macht sich derweil Verunsicherung breit, die dann und wann auch in Angst umschlägt. Man beginnt so langsam zu verstehen, wie sich - sagen wir vor 88 Jahren - die Dinge so entwickelten, dass es vier Jahre später zur Nazi-Herrschaft kommen konnte. Nein, das soll jetzt kein Text werden, der die Weimarer Republik in ihrer Endphase mit dem derzeitigen Zustand der Bundesrepublik gleichsetzt. Dafür sind die Unterschiede doch zu groß. Der größte ist wohl der: Durch die Globalisierung ist ökonomisch ein »nationaler Sonderweg« eines Landes in Europa ausgeschlossen; selbst die nationalen Schreihälse in Prag, Warschau, Budapest und jetzt auch in Wien kommen ohne die EU nicht zurande, das wissen sie und das quält sie. Auch die kulturellen Unterschiede zwischen den Nationen Europas, ja in großen Teilen der Welt, haben sich im Zuge dieses ökonomischen Prozesses abgeschliffen.

Dennoch gibt es Ähnlichkeiten in der politischen Debatte. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag hat bei etlichen Linken Schnappatmung eingesetzt. Dem Denkprozess ist das nicht unbedingt förderlich. Es sei eine Unverschämtheit, schrieb kürzlich jemand auf Facebook, Liberale und Linke in einen Topf zu werfen. Liberale würden sich schnell mit dem Faschismus arrangieren, wenn dieser ihnen nur den großen Reibach verspräche. Dies sei aus der historischen Erfahrung mit Hitler und den Seinen zu lernen. Man müsse den Liberalismus wie den Faschismus konsequent bekämpfen.

Die historische Erfahrung sollte die politische Linke etwas anderes gelehrt haben. Vor 88 Jahren, als nach dem Börsencrash vom 24. Oktober in der nachfolgenden Weltwirtschaftskrise der Aufstieg der NSDAP begann, erklärten die Kommunisten den Liberalen ebenso wie den Faschisten die Feindschaft mit dem Argument, die Liberalen (und die Sozialdemokratie) seien die Steigbügelhalter der Nationalsozialisten. Letzteren war dies recht, waren ihnen Liberale und Linke doch gleichermaßen verhasst. Und ihre Nachfolger im Geiste haben auch heute erkannt, dass der politische Liberalismus zuvörderst bekämpft werden muss, weil das Ende einer auf kulturelle Vielfalt, politische Partizipation des Einzelnen und Meinungsfreiheit gegründeten Gesellschaft, Bedingung für die Errichtung der faschistischen Stände-Gesellschaft ist. jam Foto: dpa/Sven Hoppe

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.

- Anzeige -
- Anzeige -