Werbung

Nach der Reform ist vor der Reform

Besonders jungen Pflegebedürftigen fehlt es immer noch an angemessener Betreuung

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit Beginn des Jahres ist ein wichtiger Schritt der letzten Pflegereform umgesetzt worden - die Umstellung von drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade. Angesichts der laufenden Sondierungsverhandlungen für die neue Bundesregierung ist noch nicht klar, welche der verbleibenden Aufgaben in der Pflege in den nächsten vier Jahren gelöst werden sollen. Dass es noch genug Probleme gibt, ist auch den Pflegekassen und Wissenschaftlern klar.

Die Barmer nutzte den Zeitpunkt, um ihren diesjährigen Pflegereport in Berlin vorzustellen und hierbei den Fokus auf eine oft vernachlässigte Gruppe von Pflegebedürftigen zu legen. Gemeint sind die »Jüngeren« unter ihnen - alle Unter-60-Jährigen. Laut dem Report gibt es bei dieser Gruppe von bundesweit 386 000 Menschen ganz andere Bedürfnisse als bei den älteren Pflegebedürftigen. Zum einen hat das damit zu tun, dass hier der weitaus größere Teil männlich ist (211 000), zum anderen haben die Jüngeren ganz andere Krankheitsbilder. Sie leiden etwa seltener an Demenz oder den Folgen von Schlaganfällen. Nach der Barmer-Erhebung haben 35 Prozent von ihnen Lähmungen, 32 Prozent Intelligenzminderungen, 24 Prozent eine Epilepsie und zehn Prozent das Down-Syndrom.

Gerade für die pflegebedürftigen Kinder und Jugendlichen gebe es zu wenige geeignete Plätze - etwa in Wohngruppen oder auch in der Tagespflege. Die Barmer befragte zu dem Thema 1700 ihrer versicherten Pflegebedürftigen. Von den 10- bis 29-Jährigen würden gerne 35 Prozent in eine Wohngruppe ziehen. Damit haben wohl vor allem die Jugendlichen das ganz normale Bedürfnis, nicht mehr bei ihren Eltern wohnen zu wollen, auch wenn diese häufig die Alleinpflegenden sind. Weder in Wohngruppen noch in Pflege- oder Behindertenheimen gebe es aber genügend Plätze. In Pflegeheimen treffen jüngere Behinderte dann zudem auf deutlich ältere Mitbewohner. »Diese Heime sind zwar altengerecht, nicht aber altersgerecht«, kommentiert Heinz Rothgang die Situation. Der Sozialwissenschaftler von der Universität Bremen ist einer der Autoren des Pflegereports.

Fehlende altersgerechte Angebote drücken sich auch in Wünschen nach mehr Freizeitaktivitäten aus - und diese Wünsche ziehen sich über alle Altersgruppen der Pflegebedürftigen. Sie wollen mehr Kultur, Sport und Freunde treffen, vor allem aber mehr Ausflüge und Reisen machen. Rothgang verweist in diesem Zusammenhang auf den neuen, gerade in diesem Jahr erst wirksam gewordenen Pflegebedürftigkeitsbegriff: »Der betont die Teilhabeorientierung der Pflege. Und hier ist noch viel zu tun.«

Nach den Umfragewerten und Berechnungen des Pflegereports fehlen etwa 4000 Plätze in der Tagespflege und etwa 3400 Plätze in der Kurzzeitpflege. Dazu sind aber nicht nur entsprechende Einrichtungen und Häuser nötig, sondern auch das Personal. Genau damit ist das gravierendste Probleme des gesamten Sektors angesprochen: Die allerorts fehlenden Pflegekräfte und die prekäre Situation der vorhandenen MitarbeiterInnen in diesem Bereich. »Aus 30 Jahren in der Gesundheitspolitik weiß ich, dass es bei guter Konjunktur besonders problematisch ist, Pflegekräfte zu finden«, erklärt Barmer-Vorstand Christoph Straub. Rothgang weist darüber hinaus auf die langfristig deutliche Abnahme der Zahl der Erwerbspersonen und die ebenso starke Zunahme der Zahl der Pflegebedürftigen hin. Demnach kommt das große Problem erst in den nächsten Jahren zum Tragen.

Angesichts dessen widerspricht der Bremer Wissenschaftler auch der Meinung, nach der großen Pflegereform und Milliardenausgaben in diesem Bereich »sei es ja nun mal genug« für die Pflege. Straub hofft dagegen auf die jetzt noch erkennbare Einigkeit der vier künftigen Regierungsparteien, den Pflegeberuf zu stärken, mehr Stellen zu schaffen und besser zu bezahlen. Absehbar sei bereits, dass die Kosten dafür voll durch die Pflegekassen zu finanzieren seien.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -