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Atomkraftwerke: Zwischen Rekord und Rückzug
Atomkraftwerke produzieren weiterhin viel Strom – mit stetig sinkendem Anteil an der globalen Versorgung
Gundremmingen befindet sich in guter Gesellschaft: Bis Mitte dieses Jahres waren 218 Kernkraftwerksreaktoren weltweit stillgelegt worden, was einem Drittel aller Reaktoren entspricht, die in den vergangenen 70 Jahren ans Stromnetz angeschlossen waren. In diesem Jahr kamen fünf Anlagen dazu, je zwei in Kanada und Taiwan sowie eine in Belgien. Bis 2030 steht bei weiteren 93 Reaktoren die Stilllegung an, wenn man eine normale Laufzeit zugrundelegt. Diese Zahlen gehen aus dem »World Nuclear Industry Status Report 2025« hervor, den der unabhängige Branchenanalyst Mycle Schneider mit seinem Team kürzlich in Rom vorstellte. Dies betrifft nicht nur Staaten mit formalen Ausstiegsbeschlüssen wie Deutschland. Vielmehr ist die Stilllegung von Kernkraftwerken, die die Entnahme des Brennstoffs, den Rückbau und die Demontage umfasst, ein »wichtiger, oft übersehener Bestandteil des Kernkraftwerkssystems«, wie die Autor*innen schreiben. Die Kosten dafür seien bisher kaum in der Planung berücksichtigt worden und würden nicht selten von der öffentlichen Hand getragen.
Trotz Abschaltung wurde laut dem Bericht im Jahr 2024 so viel Atomstrom produziert wie nie zuvor: 2,677 Milliarden Kilowattstunden, ein halbes Prozent mehr als der bisherige Höchststand von 2006. Die seit Langem von der Branche angekündigte Renaissance der Atomkraft lässt sich daraus aber nicht ableiten. Der Status-Report beschreibt eine Industrie im Widerspruch: So trifft der Rekordwert, der vor allem auf Chinas AKW-Boom zurückgeht, auf einen weiteren Rückgang des Atomkraftanteils an der globalen Stromerzeugung.
Weltweit waren laut dem Bericht Mitte dieses Jahres 408 Reaktoren am Netz, genau so viele wie vor einem Jahr. Betrieben wurden sie in lediglich 31 der rund 200 Ländern weltweit. Das ist ein Land weniger als 2024 – so hat Taiwan sein letztes AKW abgeschaltet.
Im vorigen Jahr wurde mit dem Bau von neun Reaktoren begonnen, davon sechs in China und je einer in Ägypten, Pakistan und Russland. Insgesamt sind laut dem Report derzeit 63 Blöcke im Bau. Außer in Südkorea werden alle in Kernwaffenstaaten errichtet oder von Staatskonzernen aus solchen Ländern, konkret China, Frankreich und Russland. Private Investoren spielen dagegen keine Rolle.
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Weltweit betrug der Atomkraftanteil an der Stromproduktion 2024 gerade einmal 9,1 Prozent, zu Spitzenzeiten 1997 waren es 17,5 Prozent gewesen. Vor allem in China stieg die Erzeugung deutlich an und zwar auf 418 Milliarden Kilowattstunden – dennoch sank auch in der Volksrepublik der Anteil am Strommix im dritten Jahr in Folge auf nun 4,5 Prozent. Der Grund: Andere Erzeugungsarten wuchsen deutlich schneller. Solar- und Windenergie lieferten zusammen mehr als das Vierfache der Atomkraft.
Das Autor*innenteam des Reports verweist auf strukturelle Probleme, die einer AKW-Renaissance entgegenstehen. So seien die Reaktoren im Schnitt 32 Jahre alt und näherten sich daher ihrer ursprünglichen Laufzeitgrenze, während Neubauprojekte weltweit unter Bauzeitverzögerungen und teils immensen Kostensteigerungen litten. Die durchschnittliche Bauzeit der im vergangenen Jahrzehnt fertiggestellten Reaktoren lag bei 9,4 Jahren. Das gravierendste Negativbeispiel ist der Europäische Druckwasserreaktor im französischen Flamanville: Nach 17 Jahren Bauzeit ging die Pilotanlage eines neuen Reaktortyps Ende 2024 ans Netz – zwölf Jahre später als geplant, bei Kosten von 23,7 Milliarden Euro, was mehr als das Fünffache der ursprünglich geplanten Summe bedeutete.
Bisher bringen laut dem Report auch die mit hohen Erwartungen befrachteten Pläne für Small Modular Reactors (SMR) keine Trendwende. In westlichen Industrieländern sei noch kein kommerzieller Bau eines solchen Mini-AKWs begonnen worden. Zudem stecken in Europa zwei der größten SMR-Start-ups, Newcleo und Naarea, in großen finanziellen Schwierigkeiten. Ob zwei fertiggestellte chinesische Prototypen erfolgversprechender sind, ist laut dem Report aufgrund fehlender Informationen unklar. Der Bau von zwei russischen Modulen dauerte fast 13 Jahre, und ihre Stromproduktion ist sehr niedrig.
Die Expert*innen verweisen darauf, dass längst die erneuerbaren Energien im Stromsektor den Takt vorgeben. Im Jahr 2024 flossen laut dem Bericht weltweit 728 Milliarden US-Dollar in neue Wind- und Solarkapazitäten – das 21-Fache der Investitionen in Kernenergie. In der Europäischen Union zum Beispiel erzeugen Wind und Sonne inzwischen 28 Prozent des Stroms. Die Atomkraft liegt bei nur noch 23 Prozent, wovon deutlich mehr als die Hälfte allein auf Frankreich entfällt.
Um die globale Atomstromproduktion bis 2030 in derzeitiger Höhe aufrechtzuerhalten, wären nach Berechnungen der Report-Autor*innen bis dahin 44 zusätzliche Reaktorstarts nötig – zusätzlich zu den ohnehin geplanten Projekten. Angesichts der Kosten- und Bauzeitprobleme erscheine das illusorisch. Wahrscheinlicher sei ein absoluter Rückgang der Atomstromproduktion, weil ältere Anlagen vom Netz gehen und nicht ausreichend neue hinzukommen – es sei denn, massive zusätzliche Laufzeitverlängerungen würden die Regel.
Die Atomkraft habe »Schwierigkeiten zu überleben«, heißt es in dem Report. Das liege vor allem daran, dass das künftige, von Erneuerbaren geprägte Stromsystem »die traditionellen zentralisierten fossilen und nuklearen Systeme verdrängt«.
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