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Berliner SPD übt sich in impulsiver Selbstkritik
Parteitag diskutiert kontrovers Lehren aus Wahlniederlagen – Müller setzt sich in der »Leitkultur-Debatte« durch
Der Berliner SPD-Landeschef Michael Müller hat sich am Samstag auf einem Landesparteitag im Hotel Intercontinental dafür ausgesprochen, nach den Personalquerelen der vergangenen Wochen den Blick in die Zukunft zu richten. »Es liegt an uns, als treibende Kraft in dieser Koalition, diese nach vorne zu bringen«, sagte Müller mit Blick auf Rot-Rot-Grün. Die Menschen würden erwarten, dass sich die Partei nicht nur mit sich selbst beschäftige, sondern dass sie konkret die Lebenssituation der Menschen verbessere, so Müller.
In seiner durchaus selbstkritischen halbstündigen Rede war der Landesvorsitzende und Regierende Bürgermeister Müller zuvor auf die seiner Meinung nach »tiefe Vertrauenskrise« der SPD nach der Wahlniederlage mit 17,9 Prozent bei der Bundestagswahl in Berlin eingegangen. »Die Ergebnisse und die Lage lässt mich nicht unberührt – ich habe meinen Anteil«, räumte Müller ein. Und: »Es ist ein desaströses Ergebnis.« Zugleich gebe das Ergebnis der SPD die Freiheit, offen darüber zu reden, was jetzt anstehe, so Müller. Das schlechte Ergebnis sei auch im Kontext des europaweiten Niedergangs sozialistischer Parteien zu sehen. Bei einfachen und schnellen Antworten wollen es die Sozialdemokraten nicht belassen, vielmehr will die SPD eine Kommission einsetzen, die bis zum Sommer 2018 Ideen und Strategien entwickeln soll, wie die Partei wieder aus dem Tief herauskommt.
Scharfe Kritik äußerte der Landeschef an dem innerparteilichen Umgang der vergangenen Wochen: »Lasst uns aufhören, über Facebook die Herkunft von Genossen zu diskutieren«, sagte Müller. Ebenso müsse Schluss damit sein, dass Mitarbeiter des Roten Rathauses als »Müllers Speichellecker« bezeichnet würden. Müller: »Es kommt darauf an, wie man miteinander umgeht: Wir sind die Partei der Solidarität, wir können mal bei uns selber anfangen.«
Mit diesem Appell traf Müller einen Nerv bei den 241 Delegierten der Parteiversammlung, die bei der Rede immer wieder lautstark applaudierten. »Die Basis hat die Personaldebatten satt«, kommentierte ein wichtiges Regierungsmitglied der SPD im Senat die kontroverse Diskussion auf dem Landesparteitag.
Erstaunlich zurückhaltend sprach kurz nach Müller unter dem Tagesordnungspunkt »Aussprache« dessen innerparteilicher Konkurrent, der SPD-Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh. »Wir die Koalition – Rot-Rot-Grün – müssen die Probleme lösen«, sagte der Fraktionschef. Er forderte zudem, den Osten Deutschlands nicht aufzugeben, wo die SPD in manchen Gebieten unter zehn Prozent liegt. Saleh betonte aber auch, dass man aus der »existenziellen« Krise nur gemeinsam herauskomme. Nach dem kritischen Brief von 14 Abgeordneten aus der Fraktion, darunter drei Stellvertreter Salehs, gelobte der Fraktionschef Besserung. Er will am kommenden Dienstag ausführlich über die an seiner Führung laut gewordenen Kritikpunkte intern sprechen.
Nimmt man den verhaltenen Applaus nach der Rede Salehs zum Maßstab, dann hat der einst so mächtige Fraktionsvorsitzende dramatisch an Rückhalt bei den Delegierten der SPD eingebüßt. Punktsieger war am Samstag auf jeden Fall Michael Müller. Das zeigte sich auch bei einem Antrag des Kreisverbandes Charlottenburg-Wilmersdorf zum Begriff der »Leitkultur«. In seinem im vergangenen Sommer veröffentlichten Buch »Ich Deutsch« hatte Saleh für eine solche neue »Leitkultur« geworben. Müller hatte dagegen erklärt: »Ich brauche keine Leitkultur-Debatte.« Mit dieser Position setzte sich der Landeschef am Ende durch, der Antrag aus Charlottenburg-Wilmersdorf zur Ablehnung der »Leitkultur« wurde in die Konsensliste übernommen – mit der Zustimmung Salehs.
Inhaltlich, das ging als Signal vom Landesparteitag aus, will die SPD unter anderem die Vergangenheit etwa mit der Hartz-IV-Debatte hinter sich lassen. »Was wir brauchen, ist eine Zukunftsdebatte, nennen wir es meinetwegen Agenda 2030«, erklärte die Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag, Andrea Nahles, die als Gastrednerin auf dem Parteitag sprach. Dabei sei sie auch offen für eine Debatte zum solidarischen Grundeinkommen, die Müller vor Kurzem in einem Zeitungsbeitrag angeregt hatte. Sachlich, selbstkritische Debatten statt Personalstreitigkeiten, das ist das Rezept, mit der die SPD aus der Krise kommen will.
Dass die Partei unterdessen für viele Menschen weiter attraktiv ist, zeigt die Mitgliederentwicklung: Allein in diesem Jahr verzeichnete die SPD in Berlin 2300 neue Mitglieder, damit hat sie mehr als 19.000 Mitglieder – so viele wie keine andere Partei in Berlin.
Wie fragil die Lage in der Berliner SPD ist, zeigte am späten Nachmittag die Debatte zum Impulspapier des Geschäftsführenden Landesvorstandes zur »Sicherheitspolitik in Berlin«. Erst nach mehrstündiger Debatte wurde eine Abstimmung erwirkt, zuvor gab es vielfach Kritik an dem Papier. »Es geht um einen Impuls, es geht darum zu zeigen, welche vier, fünf Themen uns wichtig sind«, appellierte Müller in Richtung der Delegierten, von denen einige zuvor eine Vertagung der Diskussion gefordert hatten. Am Ende beschloss eine Mehrheit, dass das Impulspapier zusammen mit den zahlreichen Änderungsanträgen als Diskussionsgrundlage in die Parteigremien verwiesen wird. Es soll dann nach den Debatten auf dem kommenden Parteitag im Sommer 2018 wieder aufgerufen werden.
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