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  • Angeblicher KZ-Häftling

Die Wahrheit über Enric M.

Javier Cercas: »Der falsche Überlebende« - ein Versuch zu verstehen

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast dreißig Jahre lang hatte sich der Katalane Enric Marco als Überlebender des Konzentrationslagers Flossenbürg ausgegeben. Die Geschichte seiner Deportation hatte er zahllose Male und »auf unendlich viele verschiedene Arten und mit unendlich vielen Anekdoten, Einzelheiten und Besonderheiten« in Artikeln, Interviews und Vorträgen, vor allem in Schulen, so überzeugend erzählt, dass er zum Präsidenten der Vereinigung ehemaliger spanischer KZ-Häftlinge aufgestiegen war. Er galt als die wichtigste Stimme der spanischen Nazi-Opfer. Am 27. Januar 2005, anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz 1945 durch die Rote Armee, hielt er bei dem ersten derartigen Festakt im spanischen Parlament eine Gedenkrede für die Holocaust-Opfer und die 9000 deportierten spanischen Republikaner (»… dann wurden wir von Hunden gebissen ...« usw.). Die Anwesenden, berichtet Javier Cercas, lauschten in andächtigem Schweigen. Nur wenig später, noch im selben Jahr 2005, enthüllte der Historiker Benito Bermejo die Deportationsgeschichte von Marco als großen Betrug und reines Lügenwerk. Enric Marco war nie in einem Konzentrationslager gewesen. Der Skandal war ein weltweiter, die ehemaligen Opfer sahen sich böse verhöhnt. Und doch hielt der indessen über 80-jährige Enric Marco an seiner Version fest, er habe doch gerade die Wahrheit über die Nazis und die Konzentrationslager verbreitet.

Wie war es möglich, dass Marcos Lügengeschichten so lange nicht entdeckt worden sind? »Wer die Öffentlichkeit betrügt, den umgibt seltsamerweise meist eine Art schützendes Schweigen«, zitiert Javier Cercas einen Psychologen. Es ist nur eine der unendlich vielen Fragen, Rätsel und versuchten Antworten im komplizierten Geflecht von Wahrheit und Lügen, denen der spanische Autor Javier Cercas in seiner detaillierten Untersuchung oder Suche nachgeht, die weit mehr als eine Biographie darstellt. Einen »Roman ohne Fiktionen« nennt er selbst das Buch, wohl wissend um den Widerspruch des Begriffs in sich (jeder Roman lebt von Fiktionen). Aber er gebraucht gerade diese Formulierung immer wieder als bewussten Gegensatz zu Enric Marcos »selbst erfundener Heldenbiographie«. Marco, ein kleiner Automonteur, 1929 in einer Frauenirrenanstalt geboren, war, wie sich herausstellt, einer »lebenslangen Erfindungssucht« erlegen und zum »Romancier seiner selbst« geworden.

Dabei liest sich das Buch ausgesprochen spannend, geradezu fesselnd, es ist geschickt aufgebaut , bis es mit einer Fahrt des Autors zusammen mit seinem Sohn ins Herz der Finsternis, nach Flossenbürg, endet.

»War es möglich, ein Buch über Enric Marco zu schreiben, ohne einen Pakt mit dem Teufel einzugehen?«, hat sich Javier Cercas gefragt. Er habe das Buch eigentlich gar nicht schreiben wollen, betont er gleich zu Beginn. Faszination und Widerwillen zugleich haben ihn offensichtlich doch nicht losgelassen und nach biographischen, psychologischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhängen suchen lassen. Dass das Ergebnis nicht vergleichbar mit den bereits bekannten erfundenen oder selbst erfundenen Lügengeschichten oder Romanen über angebliche, aber falsche Naziopfer ist, muss kaum betont werden. Javier Cercas hat gründlich recherchiert, jahrelang Gespräche mit Enric Marco selbst, mit Zeitzeugen, mit Verwandten und ehemaligen Mitarbeitern und mit Wissenschaftlern geführt. Er geht den Lebensstationen Marcos und der Geschichte seit Beginn des Spanischen Bürgerkrieges nach. Er versucht zu verstehen, bewahrt aber Distanz, denn Marco zu erneuter Öffentlichkeit zu verhelfen oder ihn zu entschuldigen, könnte ein »Pakt mit dem Teufel« werden.

Wer also war Enric Marco wirklich? Ein Mann, der sich von Jugend an und lebenslang zu einem Helden stilisierte, zu einem Anarchisten und anti-franquistischen Widerstandskämpfer, zu einem Nazi-Opfer und ehemaligen KZ-Häftling, ein Mann, der mehrmals Namen und Familienstand wechselte und »sich immer wieder neu erfand«. Dass er große Lebenslügen mit kleinen Wahrheiten vermischte, machte ihn um so glaubwürdiger in der Öffentlichkeit.

Das galt vor allem für seinen großen Coup, die KZ-Lüge. In Wahrheit war er während des Krieges freiwillig nach Deutschland gegangen, um in Kiel auf einer Werft zu arbeiten und so dem Wehrdienst in Spanien zu entgehen. Eine ihm eigene Mischung aus Geltungssucht, Einbildungskraft und intensiven Lektüren hatte ihn zu dem Menschen gemacht, dem die Öffentlichkeit nur allzu gern glaubte.

»Enric Marcos eigentliche Wahrheit, sein Bedürfnis, sich ein Leben zu erfinden«, so sagt Javier Cercas, »werden wir nie ganz begreifen können.« Aber er kommt ihr so nah, wie es möglich ist, und diese Wahrheit ist auch eine über uns und unsere Welt des schönen Scheins und der leichten Verführbarkeit. Das ist die wahre Botschaft dieses spannenden Buches.

Javier Cercas: Der falsche Überlebende. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. S. Fischer Verlag,, 495 S., geb., 24 €.

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