Das Menschlichste der Musik

Der RIAS-Chor sang in der Philharmonie Werke von Benjamin Britten und Francis Poulenc

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Der RIAS-Chor ist der beste, den Berlin hat. Justin Doyle, er leitet ihn seit kurzem, ist eine Koryphäe in Sachen Chorleitung. Offen ist er für Vieles. Hochentwickelt ist die vokale Intelligenz des Briten. Seine Programmauswahl, so sinnfällig wie ungewöhnlich und selten, überraschte. An dem Abend in bester Verfassung der Chor. Was will man mehr? Chorgesang ist das menschlichste, worüber die Musik gebietet. Er liegt am Eingang der Musikgeschichte der letzten 1000 Jahre.

Chöre a cappella, dazu Klavierstücke - und Lieder von zwei Meistern des 20. Jahrhunderts, Benjamin Britten (1913-1976) und Francis Poulenc (1899-1963), kamen zu Gehör. Motto des Konzerts: «Brüder im Geiste». Das trifft. Der Brite und der Franzose gleichen sich in Vielem. Beide kommen aus gutbürgerlichen musischen Familien. Talent auf dem Klavier hat der eine wie der andere. Poulenc, Mitglied er «Groupe de Six», avanciert in Paris neben Satie, Milhaud und anderen zu einem der gefragten Komponisten und Pianisten, Britten erfährt Gleiches erst auf den Britischen Inseln, dann in der Welt. Beide beginnen früh zu komponieren und gehen ähnliche Wege. Technische Neuerer wie Schönberg oder Webern wollen sie nicht sein. Material aus dem Fundus und daraus erwachsende Erfindungen gelten ihnen mehr als Zwölftontechnik, Komposition in Serien und Elektronik. Jener Fundus ist breit, da greifen sie rein. Was aufzubrechen ist, brechen sie nach Bedarf auf, verfremden Klänge, ziehen Witz und Wut aus ihnen, mobilisieren Klassisches genauso wie Topoi der Unterklassen, der U-Musik, der Tänze, wie sie Paris und London in friedlichen Tagen zu tanzen beliebten. Chormusik gehört zu den Idealen von Britten und Poulenc. Expressivität ist ihnen wichtig, auch, «Botschaften» auszusenden, gerichtet auf Humanität, so groß das Wort klingen mag und der Barbar es beschämt.

Zehn Chöre erklangen. Mit «Choral Dances from ‚Gloriana’» (Text: William Plomer) hob gleich ein gewichtiges sechsteiliges Werk an. Die Tempi wechseln von Teil zu Teil, auch die Register. «Concord» geht langsam, wiederholt die Zeilen «Eintracht und Zeit, sie brauchen einander» mehrmals und endet mit einem wunderbar ausmodulierten Dur-Klang. Beide Komponisten haben «Fancie» nach Shakespeares «Der Kaufmann von Venedig» für Altstimme und Klavier komponiert. Susanne Langner sang die beinahe identisch klingenden Stücke so schön, dass einem Schauer über die Brust liefen. Britten gilt als ein Meister, noch aus polyphonen Mustern der Musica antiqua Gewinn zu ziehen. Der herrlich umgesetzte Chor «A Hymn tot he Virgin» nach einem anonymen geistlichen Text ist ein Beispiel hierfür. Groß vokalisiert kommt vor die Hörer Poulencs bedeutende «Figure humaine» auf Paul Èluard. Ein achtteiliges, permanent durch die Register wanderndes, homophon wie polyphon angelegtes, die Töne der chromatischen Skala aussingendes Werk. Es endet in wahnwitziger Höhe, Stimmen schreien zuletzt «Liberté!». Danach Brittens «Hymn to St. Cecilia» op. 27 auf einen Text von Wyston Hugh Auden. Mit dem aufsässigen Dichter war Britten befreundet. Es geht in chorischen Mixturen und Sologesängen um Frieden, um Leiden und Liebe, um die Unsterblichkeit der Musik. Allen Musikern solle Cecilia als Vision erscheinen und sie erleuchten, sie solle in «komponierenden Sterblichen» ein «unsterbliches Feuer» entfachen.

Chormusik a cappella ist die natürlichste, reinste musikalische Form, die der Mensch geschaffen hat. Das geht auf Urgründe zurück. Die klingende menschliche Stimme ist offenkundig das, was in der Musik zuerst da war. Aber auch das Baby, kaum aus dem Bauch, singt schon. Es braucht keine Stützinstrumente. Die auslösenden Faktoren liegen in Bauch, Lunge, Kopf, Kehle, Mund, Zunge, Lippen, deren geschmeidigen Kontraktionen das Singen entspringt. Dessen Modulationsfähigkeit übt einen hohen Reiz aus. Zwei Wiedergaben am Ende bestätigten das besonders nachhaltig. «Poulencs »Bleuet« nach Guillaume Apollinaire inkarniert, angelehnt an Debussy, einen Zauber von Schönheit, der nicht mehr zu übertreffen ist. Das Chor-Wunder »A.M.D.G. - Ad majorem Dei gloriam« (Text: Gerard Manley Hopkins), das Britten zu Beginn des II. Weltkriegs komponierte, führt gelegentlich auf Abwege von Schönheit. Er streift die Christgeschichte und führt schließlich zu Feldern »die nicht vom Hagel gepeitscht werden«. Britten setzt in dem Werk Skalen gegeneinander, streut mystische Orgelpunkte und dramatische Impulse aus, reiht in einem Teil Ton auf Silbe ohne jegliche Zierde. Die Sehnsucht solle sich erfüllen, singt der Chor, »dort zu sein, wohin keine Stürme kommen/ wo die grüne Woge im stillen Hafen ist/ und abseits vom Wogen des Meeres«.

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