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Komfortable Unabhängigkeit ja, Milliarden horten – nein
Martyna Linartas zeigt Wege aus der Erbengesellschaft und unverdienter Unfairness auf
Geht es am 1. Mai um Arbeitnehmerrechte wie gerechtere Einkommen, Arbeitszeit, Urlaub usw., fehlt es an einem symbolträchtigen Tag gegen die ungleiche Vermögensverteilung. Die promovierte Politikwissenschaftlerin Martyna Linartas forscht zu diesem Thema. Der Titel ihres Buches »Unverdiente Ungleichheit« lädt gleich zu zwei Deutungen ein: Unverdient ist das ungleich höhere Vermögen derjenigen, die es sich nicht durch eigene Arbeit, Genialität oder andere Leistung verdient haben. Unverdient bleiben aber auch viele Millionen hierzulande ohne nennenswerte Vermögen, sie können nicht für ihre Vermögenslosigkeit. Meist liegt es daran, dass sie nicht die »richtigen« Eltern haben. In einem ZEIT-Interview spricht Martyna Linartas gar von »Spermalotterie«. Die Autorin beschreibt allgemeinverständlich, unterstützt durch aussagekräftige Schaubilder, die geradezu obszön ungleiche Verteilung von Vermögen in Deutschland. »Die reichere Hälfte in Deutschland hält auf individueller Ebene 99,5% des gesamten Nettovermögens, die ärmere Hälfte besitzt lediglich 0,5%«, lautet die Unterschrift unter einer Skizze. »Dieter Schwarz (Lidl) und die Familie Boehringer und von Baumbach besitzen mit mindestens 95 Milliarden Euro mehr Vermögen als die gesamte Bevölkerung«, heißt es unter einer anderen.
Die Autorin belegt, dass die größten Teile der riesigen Vermögen der Reichen aus Erbschaften herrühren, also nicht durch eigene Leistungen »verdient« worden sind. Sie weist anhand einschlägiger wissenschaftlicher Literatur nach, welch negative Auswirkungen derartig riesige Vermögen auf die Umwelt haben. Allein die Yacht von Abramovitsch verursache 22 000 Tonnen Kohlendioxid-Ausstoß pro Jahr. Um das von der Pariser Klimakonferenz vor nunmehr bereits zehn Jahren vorgegebene Ziel, keine Temperaturerhöhung um mehr als 1,5 Grad einzuhalten, dürfte rein rechnerisch im weltweiten Durchschnitt jeder Mensch nicht mehr als zwei Tonnen CO₂ verursachen.
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Auch auf die Gefahren der immensen Unterschiede in der Vermögensverteilung für die Demokratie weist Martyna Linartas mit eindrücklichen weiteren Nachweisen hin. Wollte die Bundesrepublik diese Ungleichheit wenigstens abmildern, stünde ihr vor allem das Instrument der Steuergesetzgebung zu Gebot. Die Autorin erzählt in einem längeren Exkurs die Geschichte der Erbschaftssteuer in Deutschland. Die Vermögensteuer ist bereits vor Jahrzehnten abgeschafft worden. Die Wissenschaftlerin unterbreitet sodann plausible Vorschläge für eine progressive Vermögensteuer und eine mittlere Erbschaften schonende, große und übermäßige Erbschaften hingegen hoch zu besteuernde gesetzliche Neuregelung. Martyna Linartas zitiert den liberalen Denker John Stuart Mill aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der eine »komfortable Unabhängigkeit« als Grenzwert für Vermögen vorschlug, das vererbt oder verschenkt werden dürfe. »Doch darüber sei Schluss!« Heutzutage gibt es keinen Deckel. »Wo bei Mill die absolute Grenze erreicht war (»komfortable Unabhängigkeit«), beginnen in Deutschland die Erbschaftssteuern überhaupt erst«, schreibt Martyna Linartas. »Von einer gesellschaftlichen Debatte über eine Deckelung der Erbschaftssteuern und Schenkungen sind wir weit entfernt.«
Mit erfrischenden und versöhnenden Gedanken, auf die sich die große Mehrheit der Menschen in Deutschland verständigen könnte, schließt die Autorin ihr Buch. Erbschaften ließe sie bis zu einer Million Euro unangetastet, verhindert werden sollten jedoch höhere, bis in die Milliarden gehende »unverdiente Ungleichheiten«. Nicht nur zum Nachdenken und Debattieren, sondern zu konkretem und raschem Handeln hat Martyna Linartas dieses wichtige, anregende Buch verfasst.
Martyna Linartas: Unverdiente Ungleichheit. Wie der Weg aus der Erbengesellschaft gelingen kann. Rowohlt, 320 S., geb., 24 €.
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