Die EU hat auf ganzer Linie versagt

Wolfram Adolphi hält das »Gezeter« über Chinas Milliardenhilfen für Osteuropa und Afrika für Heuchelei

  • Wolfram Adolphi
  • Lesedauer: 4 Min.

China handelt, und Europa - so verkündet es der Medienmainstream in gewohnter Einhelligkeit - ist entsetzt. Peking plant und verwirklicht das welthistorisch herausragende interkontinentale Infrastrukturprojekt Neue Seidenstraße, es investiert in riesigem Umfang auf dem afrikanischen Kontinent, es ist von Milliardenhilfen für Osteuropa die Rede - und Europa zetert.

Dabei geschieht doch nichts anderes als das, wofür »Europa« immer gestanden hat, solange es selbst - und in schöner »westlicher Werteeintracht« mit den USA - der übrigen Welt den Stempel aufdrücken konnte: Der Stärkere siegt, der Schwächere hat das Nachsehen. Von den Opiumkriegen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis noch in den Zweiten Weltkrieg hinein hat »Europa« China wie den letzten Dreck behandelt. Und als 1949 die Volksrepublik gegründet wurde, hat es - nun in Gestalt Westeuropas - für das als »Rot-China« befeindete Land nur Spott und Unterstützung der USA in deren auch gegen China gerichteten Kriegen in Korea und Vietnam übriggehabt.

Dann kam das Jahr 1978 mit seiner Wende vom Kurs des Mao Zedong zu dem des Deng Xiaoping. Jeder, der wollte, konnte zweierlei sehen. Erstens: Jetzt tritt die chinesische Revolution, in deren Verlauf China 1949 mit der Befreiung vom Joch halbkolonialer imperialistischer Ausbeutung zum souveränen Nationalstaat geworden war, in eine neue Phase. Jetzt befreit China auch seine ungeheuren Produktivkräfte. Jetzt gewinnt es die wirtschaftliche Kraft, die es braucht, um den 1,3 Milliarden Bewohnerinnen und Bewohnern des Landes jene Lebensbedingungen zu schaffen. So, wie sie im Westen, wo man die Ausbeutung Chinas so lange als gottgegebene Selbstverständlichkeit für die Sicherung des eigenen Lebensstandards genommen hatte, für große Teile der Bevölkerung längst üblich geworden waren.

Und zweitens: Damit diese Entwicklung sich in Harmonie mit anderen vollziehen kann, braucht es ein weltweites neues Denken. Nicht neuerliche Konfrontation ist das Gebot der Stunde, sondern der Aufbau weltweiter Strukturen - vorzugsweise im Rahmen der längst schon bestehenden UNO - zur friedlichen Nutzung und Verteilung der Weltressourcen zum gleichen Vorteil für alle.

Jetzt, 40 Jahre später, zeigt sich: »Europa« ist dieser Herausforderung nicht im Mindesten gewachsen. Es hat fundamental und umfassend versagt. Und bekommt dafür die Quittung. Das Versagen beginnt mit dem buchstäblich märchenhaften Selbstverständnis. Von »Europa« ist die Rede, aber gemeint ist nicht wirklich der Kontinent Europa, sondern gemeint ist die Europäische Union. Und mit EU gemeint ist nicht deren gesamte Bevölkerung, sondern gemeint ist ein vom selbst ernannten »Kern« der EU dominierter Machtblock. Der glaubt auf der einen Seite, mit der Schaffung einer Einheitswährung ein Einigungswerk vollbracht zu haben; auf der anderen Seite verweigert er sich aber hartnäckig dem, worin erst tatsächlich eine Vereinigung bestehen würde - der Schaffung einer Wirtschafts- und Sozialunion mit dem Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse.

Mit Chinas Handeln wird dieses Versagen unerbittlich ans Tageslicht gezerrt. Die Volksrepublik spaltet Europa, weil sie Osteuropa hilft? Aber nein. Die EU ist gespalten, weil sie sich als unfähig zur Erledigung ihrer Hausaufgaben erweist. China erobert mit seinen Wirtschaftsprojekten Afrika? Vielleicht. Aber vielleicht hängt das vielmehr damit zusammen, dass der Westen seiner einstmals eingegangenen Selbstverpflichtung, 0,7 Prozent seines Bruttosozialprodukts in die Entwicklungshilfe zu stecken, niemals auch nur im Ansatz gerecht geworden ist. Die Neue Seidenstraße ist eine Bedrohung für »Europa«? Wohl nur, wenn weiterhin Konfrontation statt Kooperation auf der Tagesordnung steht. (Übrigens auch dann, wenn - zum Beispiel - die deutsche Autoindustrie glaubt, dass sich Weltspitze in SUV-Größe messen ließe.)

Ich schlage dem entsetzten »Europa« zum wiederholten Male etwas sehr, sehr Einfaches vor: den 19. Parteitag der Gongchandang, der Kommunistischen Partei Chinas ernst zu nehmen - mit seinen Visionen von dem, was China bis 2049, wenn die Volksrepublik 100 Jahre alt sein wird, erreichen will. Und mit den Planungen, die es dafür anstellt. Im Sinne von Partnerschaft. Und nicht mit der ewig gleichen Beschwörung der »gelben Gefahr«.

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