Antifaschistische Tugenden

Warum wir mehr Alltags-Mut brauchen – die letzte Folge der USA-Kolumne von Daniel Loick

Der palästinensische Aktivist Mahmoud Khalil, der wegen seines politischen Engagments monatelang in US-Haft saß, mit seiner Frau Noor Abdalla.
Der palästinensische Aktivist Mahmoud Khalil, der wegen seines politischen Engagments monatelang in US-Haft saß, mit seiner Frau Noor Abdalla.

Ein Effekt des zunehmenden Autoritarismus besteht darin, dass es immer schwieriger wird, das Politische im eigenen Leben auszublenden. Immer mehr Menschen fürchten um ihren Job oder Aufenthaltsstatus, wurden schon mal auf der Straße beleidigt oder angegriffen oder haben Verwandte in Kriegsgebieten. Dagegen kann man sich natürlich politisch wehren, man kann auf Demos oder zur Wahl gehen. Aber dennoch ist man auch im Alltagsleben plötzlich mit der Aufgabe konfrontiert, seine ganz persönliche Haltung definieren und reflektieren zu müssen. Antifaschismus ist nicht nur eine Frage der politischen Strategie, sondern auch des richtigen Lebens: eine Frage der Tugenden.

Einer der Ratschläge, die der Historiker Timothy Snyder in seinem Buch über Tyrannei erteilt und die in den USA momentan häufig auf Demo-Schildern zitiert werden, lautet: »Be as courageous as you can« (Sei so mutig wie du kannst). Snyder verweist darauf, dass Widerstand in autoritären Systemen Mut erfordert, sogar den Mut, für die Freiheit das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. In den letzten Monaten habe ich immer wieder mitbekommen, wie für viele Menschen diese Fragen zum ersten Mal in ihrem Leben relevant wurden: Was traue ich mich? Kann ich noch was gegen Trump auf Social Media posten? Darf ich in meinem Arbeitsprojekt das Thema Gleichstellung erwähnen? Bin ich bereit, eine Konfrontation mit der Polizei zu suchen? Was würde ich konkret machen, wenn jetzt in diesem Moment die Abschiebepolizei ICE kommen und versuchen würde, die Jugendlichen vom Nachbartisch mitzunehmen?

Daniel Loick

Daniel Loick ist Abolitionist und Associate Professor für Politische Philosophie an der Universität Amsterdam. Im Rahmen eines Auslandsaufenthalts schreibt er in seiner Kolumne »Aus dem faschistischen Amerika« alle zwei Wochen über den autoritären Alltag in den USA und Argentinien.

Es ist daher kein Wunder und absolut berechtigt, wenn diejenigen, die besonders mutig sind, als Held*innen gefeiert werden: Menschen wie Mahmoud Khalil, der für seinen Aktivismus drei Monate in einem Abschiebeknast in Louisiana saß. Greta Thunberg, die versucht hat, mit einem Segelschiff Hilfsgüter in das blockierte Gaza zu bringen. Der New Yorker Stadtkämmerer Brad Lander, der von ICE verhaftet wurde, weil er Migranten aus einem Gerichtsgebäude begleiten wollte. Nachbar*innen, die in Pasadena Abschiebungen verhinderten, indem sie ICE-Mitarbeiter aus einem Hotel vertrieben. Und unzählige Alltagsheld*innen, die immer wieder ihre eigene Haut aufs Spiel setzen, um dem Faschismus entgegenzutreten.

Allerdings ist es auch problematisch, die Frage der Tugenden nur auf den Mut zu verkürzen. Denn erstens fokussiert man damit vor allem auf die spektakulären und punktuellen Aktionen statt auf die unsichtbaren und dauerhaften Praktiken und Strukturen. Zweitens wird dadurch die Hemmschwelle, sich zu engagieren, größer: Wenn Politik was für Held*innen ist, was können dann die noch beitragen, die nicht mutig sind oder sein können? Die Philosophin Joy James schlägt vor, Antifaschismus am Vorbild der Figur der Captive Maternals zu denken, der gefangenen Mütter. Captive Maternals sind unabhängig vom Geschlecht alle Menschen, die für andere eine sorgende Verantwortung tragen und im Brennpunkt von Kriminalisierung und Repression stehen. James weist auf die zentrale Bedeutung des Sorgens für Protestkulturen und Bewegungen hin: Jede Demo, jede Kampagne, jeder Riot braucht Menschen, die kochen, Wunden versorgen und zuhören.

In Zukunft werden wir alle immer mehr darauf angewiesen sein, dass es in jeder Stadt und in jedem Dorf Infrastrukturen der Fürsorge gibt: Räume, in denen man übernachten kann, in denen es etwas zu essen gibt, in denen man über Traumata und Trauer reden kann, in denen gute Musik läuft, in denen Verbindungen hergestellt werden. Zusätzlich zur Frage »Was traue ich mich?« kann sich jede*r von uns auch fragen: Um wen oder was kann ich mich kümmern, hier und heute?

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