Flüchtlinge sind Kläger zweiter Klasse
Verwaltungsrichter sehen im verweigerten Familiennachzug die Ursache eines ernsten Rechtsproblems
Möglichst schon im Januar, also bevor Koalitionsverhandlungen mit der SPD beschlossen sind, will die Union offenbar eine Zusage der SPD erwirken: Im Bundestag soll eine Abstimmung über die weitere Aussetzung des Familiennachzugs herbeigeführt werden, von der vor allem syrische Kriegsflüchtlinge betroffen sind. Notfalls werde man diesen Antrag auch allein einbringen, ließ der CDU-Bundestagsabgeordnete Marian Wendt gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland wissen. Auch wenn die Zustimmung der SPD noch nicht sicher ist - die der AfD und der FDP ist es schon. Mit dieser Mehrheit scheint der Ausgang gewiss. Die Verhinderung der Familienzusammenführung subsidiär Geschützter wird über zwei Jahre hinaus verlängert und nicht im März 2018 enden. Wendt sprach vom Erhalt des Status quo vorerst für »drei oder sechs Monate, bis es eine entsprechende Vereinbarung in einem Koalitionsvertrag gibt«. Man werde sich gegen die Zustimmung der AfD nicht wehren, fügte Wendt hinzu, der als aussichtsreicher Nachwuchspolitiker in der Union gelten kann.
Die LINKE hielt der Union am Mittwoch umgehend vor, auf eine »stille Reserve der AfD« zu setzen und mit schwarz-blau-gelben Mehrheiten zu liebäugeln. Sie versündige sich damit am sozialen Zusammenhalt im Land und verhöhne die Opfer rassistischer Gewalt, so die Parteivorsitzende Katja Kipping. Die SPD ihrerseits ist bereits vor den eigentlichen Sondierungen herausgefordert. Der Familiennachzug wird erneut zu einer Gretchenfrage in den Sondierungen. Für die Betroffenen ist er das sowieso, und nicht allein humanitäre Probleme spielen hier eine Rolle. Die Neue Richtervereinigung machte unlängst in einem Offenen Brief auf die Folgen in der Rechtspraxis aufmerksam. Immer mehr Flüchtlinge klagen gegen ihre Asylbescheide. Gegen fast jeden zweiten Bescheid wird mittlerweile Klage erhoben, 2016 war dies nach jedem vierten Bescheid der Fall. Die Verwaltungsgerichte stöhnen unter dem Ansturm der Klagen. Die Betroffenen klagen, um ihren Flüchtlingsstatus zu verbessern und damit das Recht auf Familiennachzug zu erhalten. Die Große Koalition setzte 2015 beides zugleich durch - die Aussetzung des Familiennachzugs für subsidiär Geschützte und die Änderung der Entscheidungspraxis in den Asylverfahren - immer mehr Flüchtlinge erhalten seither nur noch den minderen Schutz. Aus Einzelfällen vor Gericht wurde so eine Massenerscheinung, stellen die Verwaltungsrichter fest.
In der Sache urteilen Verwaltungsgerichte immer öfter zugunsten der Kläger. Jede vierte Klage ist erfolgreich, 2016 war es nur jede zehnte. Die Richter nennen auch Gründe. Mit der durchgesetzten Beschleunigung der Entscheidungen im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) habe die Qualität der Verfahren nachgelassen. »Qualitätsmängel und strukturelle Schwächen im behördlichen Verfahren aber führen zu weiteren vermeidbaren Gerichtsverfahren.« Die Gerichte haben auch ein grundsätzliches Problem: Die Richter haben offenbar Mühe, einer aus politischen Gründen (Verhindern des Familiennachzugs) geschaffenen Gruppe von subsidiär Geschützten den juristischen Beglaubigungsstempel aufzudrücken. Die Richter appellieren deshalb an die SPD, bei ihrer ablehnenden Haltung gegenüber einer weiteren Aussetzung des Familiennachzugs zu bleiben.
Sie sehen die Konsistenz des Rechts auch deshalb in Gefahr, weil Flüchtlinge vor Gericht »Kläger zweiter Klasse« sind, denn ihnen sind im Vergleich zum Normalfall »erhöhte Mitwirkungspflichten bei gleichzeitig kürzeren Fristen für die zudem außerordentlich beschränkten Rechtsmittelmöglichkeiten« auferlegt. Zudem werden den Gerichten gesetzlich Fristen für die Verfahren auferlegt, ein Verstoß gegen die Unabhängigkeit der Justiz. Die Richter fordern deshalb eine Reform des Asylprozessrechts, um Fehlentwicklungen zu korrigieren, die sich nach den »hektischen Gesetzesänderungen« von 2015 und 2016 in der Praxis gezeigt haben. Vor allem drängen sie auf obergerichtliche Entscheidungen, die als Maßstab künftiger Rechtsprechung wirken können. Die erstinstanzliche Rechtsprechung zerfasere wegen vielfach divergierender Entscheidungen »in einem ungekannten Ausmaß«. Rechtsschutz werde so zur Lotterie, beklagen die Richter.
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