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Falsches über Fake News

Wie die »New York Times« auf der Jagd nach Desinformationen zum Thema Aids selbst welche reproduziert.

  • Erhard Geißler
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 12. Dezember 2017 behauptete die renommierte »New York Times«, »der ostdeutsche Auslandsgeheimdienst hat in den 1980ern eine Konspirationstheorie gestartet, wonach AIDS ein Produkt US-amerikanischer Biowaffen-Experimente« gewesen sei. »Die ostdeutsche Geheimpolizei« habe im September 1985 die Desinformationskampagne mit einem dem bulgarischen Geheimdienst übermittelten Memorandum in Gang gesetzt. Der KGB habe diese dann übernommen und dahingehend erweitert, dass er das biomedizinische Forschungsinstitut der US-Armee Fort Detrick als Tatort benannt habe. Und ein Ostberliner Biologe namens Segal habe dem KGB als Promoter gedient.

Die Zeitung führt dies als Beispiel für historische Fake News an, die die Kommunisten während des Kalten Kriegs verbreitet hätten. Dumm nur, dass das Blatt damit selbst Fake News verbreitet, denn der Mythos vom Aids aus Fort Detrick wurde doch etwas anders in die Welt gesetzt. Es waren der KGB und der emeritierte Ostberliner Biologie-Professor Jakob Segal, die die Kampagne losgetreten hatten. Das von der »New York Times« erwähnte geheime Memorandum an die Bulgaren stammte nicht aus der DDR, sondern vom KGB. Und Segal agierte offenbar auf eigene Faust und das, im Gegensatz zum KGB, mit offenem Visier. Deshalb waren er und seine Theorie auch den Amerikanern bekannt. Die vermuteten, Segal sei der wissenschaftliche Berater des KGB. Aus diesem Grund gingen sie sowohl in Moskau als auch in Ostberlin gegen die Desinformationskampagne vor. Außenminister George P. Shultz beschwerte sich am 23. Oktober 1987 bei Gorbatschow über die von der Sowjetunion verbreitete Falschinformation. Der Generalsekretär wies den KGB daraufhin an, die Kampagne einzustellen.

In der DDR suchte am 29. Dezember 1987 US-Botschafter Francis J. Meehan den stellvertretenden Außenminister Kurt Nier auf. Seine Regierung sei »besorgt über eine weltweite Desinformationskampagne gegen die USA, die ihre Quelle in der DDR habe in Gestalt von Ausführungen von Prof. Segal«. Seinen Vorstellungen zufolge sei das Aids-Virus in einem Labor der USA-Armee hergestellt worden.

Tatsächlich hatte Segal ab Herbst 1985 ein Hypothesengebäude entwickelt und verbreitet, wonach der Aids-Erreger ein Ergebnis amerikanischer Gentechnik-Experimente in Fort Detrick sei. Darüber wurde in dieser Zeitung schon ausführlich berichtet.

Im Außenministerium (MfAA) war man völlig überrascht. Nach dem Treffen kabelte die US-Botschaft nach Washington, Nier habe von Segals Theorie »noch nie etwas gehört, sei sich aber sicher, dass seine Fachleute das klären könnten«. Tatsächlich erkundigten sich Mitarbeiter des MfAA unverzüglich bei der Abteilung Gesundheitswesen des ZK und im Gesundheitsministerium (MfG). Von dort erfuhr man: Segals »Position, dass das Aids-Virus von der USA-Army gezüchtet und außer Kontrolle geraten sei, ist nicht die offizielle DDR-Position (was rot unterstrichen wurde). Die Abt. Gesundheitswesen im ZK und das MfG distanzieren sich von dieser Behauptung, da sie nicht mit Beweisen belegbar ist.« Und, wieder rot unterstrichen und am Rande markiert: »Prof. Segal ist emeritiert. Er ist kein DDR-Bürger.« Aber davon hatten die Amerikaner natürlich keine Ahnung und wunderten sich nur, dass die DDR im Gegensatz zur Sowjetunion trotz wiederholter Proteste nicht in der Lage war, die Kampagne zu stoppen. Nachdem Außenminister Oskar Fischer über die Ergebnisse der Recherchen unterrichtet worden war, teilte man dem US-Botschaftsrat John Greenwald offiziell am 7. Januar 1988 mit, dass Segals Thesen nicht die Position der DDR-Regierung seien.

In mehreren Abteilungen des Ministeriums für Staatssicherheit wusste man im Gegensatz zum MfAA über Segals Aktivitäten Bescheid. Nachdem auf höhere Veranlassung ein Gremium wissenschaftlicher und medizinischer DDR-Experten die Thesen diskutiert und zurückgewiesen hatte, verfasste ein für die Charité verantwortlicher Offizier der Berliner Bezirksverwaltung des MfS eine mehrseitige kritische Bewertung und kam zu dem Schluss, Segals Aktivitäten seien unwissenschaftlich und letztlich republikfeindlich.

Doch statt als »Schild und Schwert der Partei« die weitere Verbreitung der Segalschen Thesen zu unterbinden, beschlossen einige unbotmäßige Offiziere der HVA, Abteilung X, auf das Trittbrett des KGB-Desinformationszuges zu springen. Gegenüber bulgarischen Kollegen brüsteten sie sich unter anderem damit, einen westdeutschen Fernsehfilm insgeheim mitfinanziert zu haben. Douglas Selvage von der Stasiunterlagenbehörde (BStU), einer der Kronzeugen des Artikels in der »New York Times«, glaubte das unbesehen und behauptete in einer von der BStU herausgegeben Broschüre unter anderem, »die letzte und vielleicht anspruchsvollste aktive Maßnahme der HVA/X (…) war die Mitfinanzierung des Films ›Aids - die Afrikalegende‹«. Der Filmemacher klagte erfolgreich gegen diese Behauptung: Im Oktober 2017 wurde der Beauftragte der Bundesregierung für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main verurteilt, solche Behauptungen zu unterlassen. Hauptargument der Richter war, dass BStU-Mitarbeiter Selvage unkritisch unbewiesene Behauptungen aus Dokumenten von Stasi und bulgarischem Geheimdienst weitergegeben habe.

Der Molekularbiologe Prof. Erhard Geißler (Jahrgang 1930) ist Gastwissenschaftler an seiner alten Arbeitsstätte, dem Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin Berlin-Buch.

Ergänzung der Redaktion vom 10. Januar 2017:
Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU) weist darauf hin, dass das Urteil vom OLG Frankfurt am Main noch nicht rechtskräftig ist. »Von acht durch das Gericht geprüften Äußerungen darf der BStU weiterhin fünf Aussagen tätigen, in einer Studie, die 150 Seiten umfasst. Der BStU prüft innerhalb der entsprechenden Fristen mögliche weitere rechtliche Schritte.«

Ergänzung der Redaktion vom 7. Januar 2020:
Mit Urteil vom 2.Juli 2019 (VI ZR 494/17) hat der Bundesgerichtshof die Klage gegen die Studie schlussinstanzlich zurückgewiesen und das Urteil des OLG Frankfurt aufgehoben. Der BStU darf die Studie in der ursprünglichen Version wieder veröffentlichen. In seiner Begründung führt das Gericht an, dass die strittigen Aussagen erkennbar eine wissenschaftliche Schlussfolgerung sind, die sich auf umfangreiche Bewertungen zahlreicher Quellen stützt.

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