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Die Zeichen des eigenen Lebens

Fotobücher mit retrospektiven Betrachtungen des DDR-Alltags haben nach wie vor Konjunktur. Warum eigentlich?

  • Frank Schirrmeister
  • Lesedauer: 6 Min.

Ostalgie ist zu einem Kampfbegriff geworden, vor langer Zeit schon. Wenn das Wort fällt, oft mit einem indignierten Unterton, steckt in der Regel der Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit dahinter, meist noch mit der inquisitorischen Frage verbunden, man sehne sich wohl nach der DDR zurück oder trauere den Kommunisten hinterher. Sich öffentlich an das Land östlich der Elbe zu erinnern, ist so im Laufe der Zeit zu einer zweischneidigen Sache geworden, die Totalitarismuskeule schwingt immer mit. So vorherrschend ist bis heute die westdeutsche Deutungshoheit über die Art, wie man die DDR gefälligst historisch zu betrachten hat, dass jedes Erinnern stets mit der gleichzeitig beschwichtigenden wie vorauseilend entschuldigenden Floskel einhergeht, selbstverständlich sehne man sich mitnichten nach dem politischen System zurück, aber …

Unter diesen Vorzeichen ist es ein seltsames Phänomen, dass der Fotobuchmarkt seit Jahren mit retrospektiven Betrachtungen des DDR-Alltags geflutet wird. Inzwischen hat wohl jeder ernst zu nehmende ältere Fotograf östlich der Elbe seine Schubladen durchsucht und ein Buch aus den darin gefundenen Bildern gemacht. Die Konjunktur solcherart Fotobände trifft offenkundig auf eine verbreitete Nachfrage. Aber wonach suchen die Menschen, die sich diese Bücher kaufen? Ist das noch Heimatkunde oder schon Eskapismus? Steckt dahinter womöglich der Drang, dem gefühlten Unbehaustsein der Gegenwart das warme, vertraute Gefühl des Erinnerns entgegenzusetzen? Oder der Wille zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte?

Knapp dreißig Jahre nach dem Mauerfall scheint es, als habe die Aufarbeitungsindustrie gerade wieder Fahrt aufgenommen. Zwar ist Ende des vergangenen Jahres mal wieder die mangelnde Repräsentanz Ostdeutscher an den Schaltstellen in Politik und Gesellschaft konstatiert worden; für deren Vergangenheitsaufarbeitung ist jedoch auskömmlich gesorgt, so lange, siehe oben, die Deutungshoheit nicht infrage gestellt wird. Darüber wachen Institutionen wie die Bundesstiftung Aufarbeitung, die allein dieses Jahr 2,65 Millionen Euro für Projekte zur Aufarbeitung der »kommunistischen Diktaturen« zu vergeben hat. 200 000 Euro davon spendiert die Stiftung für die Aufbereitung und Digitalisierung des Archivs von Harald Hauswald, in dem Zehntausende Negative noch der Entdeckung harren. Damit ist Hauswald mit seinen teils schon ikonografischen Fotografien vom Alltagsleben in der DDR endgültig Teil der offiziellen Geschichtsschreibung geworden.

Wer möchte, kann sich heute also ein umfassendes Bild vom Leben in der DDR machen, und das ganz buchstäblich. Mit »Graustufen« von Jürgen Hohmuth ist nun ein weiteres Teil zum endlosen DDR-Puzzle hinzugekommen. Erkundete er in seinem Vorgängerbuch »1055 Berlin« noch die Straßen und Hinterhöfe des Prenzlauer Berg, hat Hohmuth diesmal Bilder aus dem ganzen Land versammelt, wobei die meisten Bilder am Ende doch wieder in Berlin, dem Lebensmittelpunkt des Fotografen, aufgenommen wurden. Es ist nicht ganz klar, was Hohmuth mit dem Titel sagen will; bezieht sich der Terminus lediglich auf das Medium, die Schwarz-Weiß-Fotografie? Oder will er darauf hinaus, dass es im DDR-Einheitsgrau doch zahlreiche Schattierungen gab? Diese Interpretation ist die wahrscheinlichere, zumal Hohmuth (Jahrgang 1960) zur legendären Prenzlauer-Berg-Bohème gehörte, die das Bunte im Grau zu zelebrieren wusste und zur Lebensform erhob.

Bunt - als metaphorische Größe - ist in diesem Buch jedoch wenig. Für den DDR-fernen Betrachter zeigen die Bilder nurmehr eine gehörige Portion Alltagstristesse - griesgrämige alte Männer, leere Straßen mit Sperrmüllcontainern, Plattenbauödnis, Kohlendreck, Einsamkeit und Verfall allerorten. Erst der östlich sozialisierte Zeitgenosse, ob damals Kind oder schon erwachsen, sieht die Zeichen des eigenen Lebens und weiß sie zu deuten. Für die Eingeweihten hat ein simpler Sperrmüllcontainer eben eine ganz eigene Konnotation, gehörte es doch zum Lebensstil junger Erwachsener in der Großstadt, seinen Hausrat und die Möbel für die erste eigene Wohnung in den jederzeit zugänglichen Containern zu sammeln. Diese dienten als Tauschbörse für Gebrauchsgegenstände aller Art. Eine sozialistische Form der Share Economy sozusagen.

Das Buch ist voll von diesen Zeichen und Verweisen, aus denen sich schließlich Erinnerung und Identität speisen. Identität ist ja letztlich nichts als ein System von Zeichen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden und in Differenz zu etwas anderem stehen. Insofern dienen all die schwarz-weißen Bildbände über das DDR-Alltagsleben der Selbstvergewisserung und/oder Identitätsbildung und haben gewissermaßen eine kathartische Funktion. Diese scheint auch 30 Jahre danach noch notwendig zu sein. Allzu lang wurde das Bekenntnis zu einer wie auch immer gearteten Ost-Identität denunziert als (N)Ostalgie oder noch Schlimmeres und erst jetzt setzt sich langsam die Erkenntnis durch, wie sträflich das ostdeutsche Narrativ im gesellschaftlichen Diskurs vernachlässigt wurde. Dass ausgerechnet Pegida & Co. zum Katalysator für ein neues Nachdenken über ostdeutsche Befindlichkeiten wurden, ist die bittere Pointe der Geschichte.

Hohmuths Buch ist somit weniger ein Bildband denn ein Erinnerungsbuch. Dies umso mehr, als die Bilder von kurzen und einigen längeren Texten begleitet werden. Sie machen das Buch zu etwas Besonderem. Der offenbar gut vernetzte Fotograf hat verschiedenste Autoren, darunter bekannte Namen, oder einfach Freunde und alte Weggefährten gebeten, ihre Gedanken und Reminiszenzen zu einzelnen Bilder aufzuschreiben. Entstanden ist ein Konvolut an Erinnerungen, eine Rückschau, die eine gewisse Melancholie angesichts der vergangenen Zeit nicht nur zulässt, sondern geradezu herausfordert.

Sabine von Oettingen, eine feste Größe in der Ostberliner Subkultur der achtziger Jahre, gibt den Ton vor, wenn sie schreibt: »In mir wohnt immer ein warmes, vertrautes Gefühl, wenn ich mir genau diese schwarz-weißen … Bilder von Hohmuth aus dem DDR-Alltag anschaue. Nicht nur, weil mir alles so vertraut ist, sondern weil ich mich damit identifiziere.« Obgleich eigentlich eine Selbstverständlichkeit, sind solche Töne doch neu, man scheint des verdrucksten Relativierens der eigenen Vergangenheit leid zu sein. Abgesehen von Flake, dem Rammstein-Keyboarder, der mit einigen Texten im Buch vertreten ist und der sich schon immer dazu bekannt hat, den Osten eigentlich viel cooler gefunden zu haben, und der seine Abneigung gegen »Westler« nach eigenen Worten bis heute nicht so recht überwunden hat.

Hohmuth, der einst in Leipzig bei Arno Fischer studierte, lässt uns ein Buch lang teilhaben am »Normalleben der Normalmenschen im Normalland«, wie es im Buch heißt. Seine Bilder sind Miniaturen, Schnappschüsse des Alltags, im Vorbeigehen entstanden - klassische Straßenfotografie. Ein radikal neues oder anderes Bild vom ostdeutschen Alltagsleben wird man in diesem Band nicht entdecken. Etliche Bilder meint man schon einmal anderswo gesehen zu haben. Viele der Fotografen, die sich in der DDR subkulturell verorteten, kamen letztlich aus ähnlichen Milieus und lebten in ihrer Nische im Prenzlauer Berg. Die zwangsläufige Folge war, dass sich auch die Sujets wiederholten. Das entwertet das Buch keineswegs, es scheint sich aber doch eine gewisse Sättigung hinsichtlich der Schwarz-Weiß-Berlin-Prenzlauer-Berg-80er-Jahre-DDR-Alltags-Fotografie-Bücher anzudeuten.

Als die Bilder in den achtziger Jahren entstanden, ahnte noch niemand, wie kurz die verbleibende Zeitspanne für das kleine Land namens DDR noch sein würde. In der Retrospektive sucht man in den Bildern unwillkürlich nach Zeichen des nahenden Untergangs. Der aufmerksame Betrachter wird rasch fündig - all die Symbole des Verfalls, der Stagnation und eine Müdigkeit in den Blicken vor allem der Älteren springen überdeutlich ins Auge. Aber ist das vielleicht eine Interpretation aus heutiger Sicht? Erschien auch den Zeitgenossen ihr Leben so grau und ausgedient? Nun, die Wahrheit wird wie immer in der Mitte liegen. Oder wie es Christian Kunert, Rockmusiker (Renft) und Liedermacher, im Buch schreibt: »Doch doch, ich erinnere mich: Sie war allgegenwärtig, die Gottverlassenheit. Belagerte die Sinne, beherrschte Architektur, Fernsehen und Nahverkehr, stand mit in der Schlange und sogar auf der Speisekarte. Das wird es gewesen sein, was die Regierung am Ende ihren Job gekostet hat. Das ging einem irgendwann einfach auf’n Geist. Aber gelacht hammer trotzdem.«

Jürgen Hohmuth: Graustufen. Leben in der DDR in Fotografien und Texten. Edition Braus, 144 S., geb., 29,95 €.

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