»Sie hatten diesen Widerstand nicht erwartet«

Serzad Hisên vom »Informationszentrum des Afrin-Widerstands« über den türkischen Einmarsch und die Lage der Zivilbevölkerung

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 7 Min.

Wie ist die Lage der Zivilbevölkerung in Afrin?
Vor allem die Grenzgebiete von Afrin sind derzeit von schweren Gefechten betroffen. Die Zivilbevölkerung musste hier großteils ihre Häuser verlassen. Täglich gibt es zudem Bombenangriffe, auch direkt in der Stadt selber, sowohl von Artillerie als auch von Kampfjets. Menschen, die sich nicht verteidigen können, wurden in Höhlen in Sicherheit gebracht. Nach den letzten Informationen unseres Gesundheitsrates wurden bisher 35 Zivilisten getötet und 106 verletzt, darunter viele schwer. Das Krankenhaus in Afrin selbst funktioniert, hat aber Probleme, den Anforderungen gerecht zu werden. Ein weiteres Krankenhaus in dem Ort Jandaris wurde durch einen Bombenabwurf zerstört.

Befinden sich Menschen auf der Flucht?
Einige Familien sind auf der Flucht – diese gestaltet sich jedoch äußerst schwierig, da Afrin eingekreist ist. Der einzige mögliche Weg führt in Regimegebiete und unseres Wissen nach, versucht das Regime Übertritte zu behindern oder Bedingungen an die Flüchtenden zu stellen. Wenn sich die Angriffe auf Zivilisten verschärfen und der Krieg noch größere Ausmaße annimmt, wird sich die Anzahl der Flüchtlinge sicherlich vergrößern. Alles in allem geht es den Menschen jedoch trotz der Kriegssituation nicht schlecht, es herrscht eine hohe Entschlossenheit, sich nicht zu unterwerfen und Widerstand zu leisten. Sowohl von den militärischen Einheiten als auch von der Zivilbevölkerung, die sich zum Teil ebenfalls bewaffnet hat.

Zur Person

Serzad Hisên ist Koordinator im „Informationszentrum des Afrin-Widerstands“. Das Zentrum ist ein Projekt verschiedener Institutionen und Bewegungen aus Rojava. Es steht nach eigenen Angaben eng mit zivilen und militärischen Quellen in Afrin in Kontakt. Das Gespräch führte Sebastian Bähr.

Die Türkei erklärte, Afrin befreien zu wollen. Wie bewertet die Bevölkerung den Angriff?
Afrins Bevölkerung bewertet den türkischen Einmarsch als Besatzungsversuch und klaren Terror einer ausländischen Kraft. Sie steht dem System von Rojava mehrheitlich positiv gegenüber und ist mehrheitlich auch ein Teil der Revolution, die hier stattgefunden hat und auch immer noch stattfindet. Mehr als 80 Prozent haben bei den letzten Wahlen der Räte und Kommunen für die Liste gestimmt, die eine Demokratisierung Syriens und eine Geschwisterlichkeit der Völker anstrebt.

Laut der türkischen Regierung und Medienberichten soll sich der Angriff auch gegen den Islamischen Staat richten. Gibt es diesen in Afrin?
Das ist kompletter Nonsens, natürlich gibt es keine IS-Gruppen in Afrin. Der Kanton hat sich die vergangenen Jahre erfolgreich gegen alle Angriffe von außen gewehrt, speziell gegen Kräfte der Freien Syrischen Armee. Afrin ist einer der wenigen Orte in Syrien, die bisher weitgehend vom Krieg verschont geblieben sind, es konnte so eine den Umständen entsprechend relativ gute Wirtschaftsstruktur und Verwaltung aufgebaut werden. Die Berichte basieren auf türkischer Propaganda, die damit ihren Besatzungskrieg legitimieren will.

In türkischen Grenzstädten sind Raketen eingeschlagen, Ankara macht die kurdische Miliz YPG dafür verantwortlich. Wurde von Afrin aus auf diese Orte geschossen?
Nein. In der Türkei selbst gibt es Personen, die dieser Behauptung widersprechen, beispielsweise ein CHP-Abgeordneter aus Hatay. Dieser hatte erklärt, dass die abgefeuerten Raketen gar nicht die Reichweite haben, um von Afrin aus abgefeuert worden zu sein. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Angriffe entweder gefälscht wurden oder von türkischem Boden aus stattfanden. Die YPG und die Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) – an denen sich die YPG beteiligt – hatten klargestellt, dass sie damit nichts zu tun haben. Ich bin mir zudem sicher, dass die in Afrin einflussreiche Partei der Demokratischen Union (PYD) die türkische Zivilbevölkerung nicht als Feind betrachtet.

Wie verlaufen die Kampfhandlungen?
Nach unseren letzten Informationen sind auf Seiten der türkischen Armee als auch der mit ihr verbündeten Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) 203 Kämpfer getötet worden. Die YPG hat mindestens 22 Gefallene zu beklagen. So wie es zur Zeit aber aussieht, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass Afrin von der Türkei wirklich besetzt wird. Eine der größten Armeen dieser Welt, mit modernster, internationaler Kriegstechnologie ausgestattet, schaffte es innerhalb von fünf Tagen lediglich, eine Handvoll Dörfer einzunehmen. Sie ist in einigen weiteren Ortschaften im Grenzgebiet damit beschäftigt, ihre Position zu halten. Vermutlich hatten sie diesen Widerstand nicht erwartet. Nichtsdestotrotz besteht eine immense Gefahr für die Zivilbevölkerung.

Warum?
Die Nordsyrische Föderation kann es bisher nicht bestätigen, aber die Türkei behauptet selbst, den Krieg auch zu führen, um eine Rückkehr von syrischen Flüchtlingen zu ermöglichen. Möglicherweise hat sie im Sinn, die aktuelle Bevölkerung - rund eine Million Menschen - zu massakrieren oder zu vertreiben und stattdessen Flüchtlinge anzusiedeln.

Befinden sich internationale Freiwillige in Afrin?
Internationale Freiwillige sind an der Verteidigung des Kantons beteiligt.

Es gibt Berichte, wonach die türkische Armee deutsche Waffen und Rüstungsgüter einsetzen soll. Können Sie dies bestätigen?
Die türkische Armee benutzt deutsche Panzer in ihrer Operation gegen Afrin – nicht nur vereinzelt, sondern massenhaft. Sowohl türkische Medien als auch lokale Quellen in Afrin haben dies durch Bilder bestätigt. Es handelt sich vor allem um Leopard 2A4-Panzer.

Nach anderen Berichten sollen sich bekannte Islamisten unter den mit der Türkei verbündeten FSA-Einheiten befinden. Wie sieht es hier aus?
Die FSA-Einheiten, die an dem Einmarsch teilnehmen, sind großteils islamistisch orientiert. Zu nennen sind etwa die Gruppen »Hayat Tahrir al Sham«, »Feylaq Sham«, »Turkmenistan Party« und »Sultan Silêman«. Dazu gibt es Informationen, dass auch ehemalige IS-Kämpfer, die in die Türkei gelangt sind, von Ankara eingesetzt werden.

Kann die Enklave Afrin durch die anderen Rojava-Kantone über Regime-Gebiete verstärkt werden?
Afrin ist derzeit nicht über die Regime-Gebiete erreichbar. Dies ist jedoch keine feststehende Information, die Situation kann sich jederzeit ändern.

Schon länger gab es Ankündigungen der Türkei Afrin anzugreifen. Warum gerade jetzt und warum Afrin?
Die türkische AKP-Regierung befindet sich in einer politischen, gesellschaftlichen und diplomatischen Krise. Mit der Operation will sie aus dieser herauskommen und gleichzeitig der Revolution in Rojava einen tödlichen Schlag versetzen. In der Geschichte der kurdischen Freiheitsbewegung, auch vor der Revolution, spielte Afrin zudem eine bedeutende Rolle. Tausende Männer und Frauen aus dieser eher kurdisch-patriotisch geprägten Region hatten sich in der Vergangenheit der Guerilla in den Bergen angeschlossen, um gegen die Türkei zu kämpfen. Afrin ist so ein Symbol – und gleichzeitig ein Gebiet in Rojava, in der die Internationale Koalition gegen den IS nicht vertreten ist.

Welche Auswirkungen hat die türkische Militäroffensive auf die Beziehungen zwischen den SDF und den USA?
Mit ihrem Einmarsch hat die Türkei den IS in Syrien ein weiteres mal gestärkt: In den vergangenen Tagen gab es Angriffe der Islamisten, unter anderem in der Region Deir ez-Zor. Die SDF und die Nordsyrische Föderation erwarten, dass die USA und die Internationale Koalition gegen den IS mit Stellungnahmen und Handlungen eine klarere Position zu diesem Krieg beziehen.

Gab es vor dem türkischen Einmarsch Gespräche zwischen der Nordsyrischen Föderation und Russland?
Es gab zuvor Gespräche zwischen Vertretern der YPG, der Nordsyrischen Föderation und Russland. Die nordsyrischen Vertreter wurden dabei zu Verhandlungen eingeladen, die in Sotchi geführt werden. Russland hatte jedoch dann Bedingungen gestellt, die von den Rojava-Verantwortlichen nicht akzeptiert werden konnten. Der folgende gleichzeitige Rückzug der russischen Militärkräfte aus Afrin und die Operation der syrischen Armee auf Idlib lassen darauf schließen, dass es ein Abkommen zwischen der Türkei und Russland gab, diese Regionen miteinander auszutauschen. Moskau spielte damit ein hinterhältiges Spiel: auf der einen Seite Zugeständnisse machen, auf der anderen Seite einen geheimen Deal mit der Türkei planen.

Es gab am Mittwoch erste Bombenangriffe auf die Stadt Manbidsch, in der auch US-Soldaten stationiert sind. Glauben Sie, dass die türkische Armee auch hier mit Bodentruppen angreifen könnte?
Es ist durchaus möglich. In den vergangenen zwei Tagen gab es hier bereits mehrere Versuche von Grenzübertritten. Auch in anderen Gebieten Rojavas kam es zu Mörserangriffen und kurzen Gefechten.

Gibt es Staaten, die sich angesichts der türkischen Angriffe mit Afrin solidarisch erklärt haben?
Es gibt bis jetzt keinen Staat, der eine Unterstützung für Afrin angeboten hat. Eine Reihe von Staaten, sowohl innerhalb der EU als auch innerhalb der Anti-IS-Koalition, haben jedoch ihre Zweifel und ihren Unmut über die türkische Operation geäußert.

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