Der lange Schatten von »Tanne«

Niedersachsen: In Petershütte häufen sich Hirntumore - sind Rüstungsaltlasten der Grund?

  • Hagen Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine den Patienten erschütternde Diagnose: Im Hirn bedroht ein Glioblastom das Leben - ein bösartiger Tumor, der als nahezu unheilbar gilt. An dieser Krankheit starben vier Menschen in den vergangenen acht Jahren - in einem Harzdorf, das nur 700 Einwohner zählt: Petershütte im niedersächsischen Kreis Göttingen.

Auffällig viele für diesen Zeitraum in einem so kleinen Ort, meint ein Arzt, der früher selbst dort lebte. Zu viele. Normal gewesen wäre allenfalls ein Glioblastom-Toter, gibt der Mediziner zu bedenken. Er meldete die Sache den Behörden , die sich nun mit der Frage befassen: Haben Altlasten einer nahen, bis Kriegsende bestehenden Sprengstofffabrik der Nazis die Tumore verursacht? Das soll jetzt untersucht werden.

Ins Blickfeld gerät dabei das einstige Werk »Tanne«, eine 120 Hektar große Anlage, rund 13 Kilometer von Petershütte entfernt, nahe Clausthal-Zellerfeld im niedersächsischen Kreis Goslar. Ab 1939 ließ das Hitler-Regime auf dem durch starken Baumbewuchs gut getarnten Terrain vor allem den Sprengstoff Trinitrotoluol (TNT) produzieren. Doch auch das Füllen von Bomben, Minen und Granaten gehörte zu den Aufgaben der rund 2600 Männer und Frauen, die in der drittgrößten Sprengstofffabrik des Deutschen Reiches eingesetzt waren.

Mehr als die Hälfte jener Belegschaft bestand aus Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. Menschen aus Osteuropa, aus Belgien und Frankreich mussten in den 214 Gebäuden auf »Tanne« schuften, waren täglich dem hochgiftigen TNT ausgesetzt, ohne Schutzkleidung, ohne Handschuhe. Die gefährliche Substanz wirkt sich zerstörerisch auf die roten Blutkörperchen aus, schädigt unter anderem die Leber so sehr, dass sich die Haare der Betroffenen golden oder rötlich verfärbten. Spöttisch wurden die Vergifteten deshalb in der Umgegend von Clausthal-Zellerfeld als »Goldköpfchen« oder »Kanarienvögel« bezeichnet.

Hunderte von ihnen verloren ihr Leben aufgrund der Arbeit im Harzer Werk, das monatlich etwa 2800 Tonnen TNT produzierte. Große Mengen Abwasser fielen dabei an, vermutlich mehr als drei Millionen Kubikmeter, so wird geschätzt. Entsorgt wurde es anfangs ungeklärt in die Söse. Angesichts eines Fischsterbens in jenem Harzflüsschen wichen die Verantwortlichen jedoch von dieser Praxis ab und leiteten die Giftbrühe - wieder ohne vorherige Klärung - in Schluckbrunnen, eine Bezeichnung für Sickerschächte, durch die in der Regel unbelastetes Wasser ins Erdreich gelangt. Im Fall »Tanne« jedoch bezieht sich der Begriff auf Höhlen - und was in diese gepumpt wurde, war alles andere als unbelastet.

Inwieweit durch diese »Brunnen« giftige Hinterlassenschaften in den Boden gelangt sind und womöglich über das Trinkwasser zu den Hirntumoren im nahe gelegenen Petershütte beigetragen haben, will der Landkreis Göttingen nun untersuchen lassen. Das gilt auch für den Weg der Abwässer aus »Tanne« durch Rohrleitungen. Das Land Niedersachsen hat für diese Maßnahme 210 000 Euro zur Verfügung gestellt.

Wesentlich teurer ist die Sanierung des Bodens und des Grundwassers auf dem »Tanne«-Gelände und in seiner Umgebung. Rund 30 Millionen Euro wird das kosten, heißt es. In dieser Sache hatten das Land Niedersachsen und die Eigentümerin des Terrains, die IVG Immobilien AG, bereits 2014 einen Vergleich geschlossen. Die Gesellschaft - sie ist Rechtsnachfolgerin der ehemaligen Grundeigentümer - zahlt 15 Jahre lang pro Jahr zwei Millionen fürs Sanieren.

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