»Es macht kaum noch einen Unterschied, ob eine Anklageschrift vorliegt«

Evin Barıs Altıntas von der Media and Law Studies Association (MLSA) über eine Türkei, in der nicht einmal mehr die Anordnungen des Verfassungsgerichtes umgesetzt werden

  • Nelli Tügel
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie haben erst kürzlich die Media and Law Studies Association (MLSA) gegründet. Warum?
Alle unsere Mitbegründer und Mitglieder sind Journalisten und/oder Anwälte. Einige von uns unterstützen schon länger Journalisten im Gefängnis, wie ich und mein Mitstreiter Veysel Ok, der auch der Anwalt von Deniz Yücel ist. Der wichtigste Grund für die Gründung von MLSA war, dass wir sicherstellen wollten, dass es in der Türkei mindestens einen Verein gibt, der sich für inhaftierte Journalisten einsetzt, unabhängig von ihrem politischen Hintergrund.

Journalistenverbände konzentrieren sich in der Regel auf eine oder zwei Personen, von denen sie denken, dass diese ihnen ideologisch nahe sind. Für uns ist es aber sehr wichtig, dass jeder Zugang zu denselben Verteidigungsstandards hat. Es gibt zur Zeit nach unserer Zählung 155 Journalisten in Haft. Es gibt jedoch nur zwölf Beschwerden beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Warum hatten die anderen nicht die Möglichkeit, zum EGMR zu gehen? Wenn ein Journalist nicht berühmt ist oder für ein Medienhaus arbeitet, das gute Anwälte (oder überhaupt Anwälte) finanzieren kann oder Verbindungen zu internationalen Gruppen hat, dann ist er schnell vergessen.

Zur Person
Evin Barış Altıntaş gründete im Dezember 2017 gemeinsam mit Veysel Ok, dem Rechtsanwalt Deniz Yücels, in Istanbul die Media and Law Studies Association (MLSA). Das Ziel der Organisation ist es, insbesondere inhaftierte Journalisten, aber auch verfolgte Akademiker und Aktivisten zu unterstützen. Über den Fall Yücel und die jüngste Verfassungskrise in der Türkei sprach mit Altıntaş für »nd« Nelli Tügel.

Und was sind weitere Ziele?
Ein weiteres Ziel betrifft die Zukunft: Natürlich wird es eines Tages ein Morgen, ein Ende dieser außergewöhnlichen Situation in unserem Land geben. Die Verteidigung von Journalisten und anderen wird helfen, schneller dorthin zu gelangen. Aber wir wollen darüber hinaus auch sicherstellen, dass es qualifizierte Journalisten gibt, die - wenn die Zeit gekommen ist und sie wieder freier berichten können - ihren Job gut machen.

Was sind die Hauptprobleme für die inhaftierten Journalisten und ihre Anwälte?
Natürlich ist die fast vollständige Beseitigung der Rechtsstaatlichkeit und die Politisierung der Justiz das Hauptproblem. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem gerichtliche Anordnungen zur Freilassung von Journalisten nicht mehr befolgt werden. Dies wurde mit dem Urteil des Verfassungsgerichts im Januar deutlich, das die Freilassung der Journalisten Şahin Alpay und Mehmet Altan anordnete, aber die unteren Gerichte befolgten die Entscheidung nicht, obwohl die Entscheidungen des Verfassungsgerichts endgültig und für alle verbindlich sind.

Doch es ist nicht das erste Mal, dass dies passiert. Im März letzten Jahres wurde beispielsweise in einem Prozess gegen 21 Journalisten die Freilassung angeordnet, 13 wurden jedoch wegen neuer Anklagepunkte erneut inhaftiert und acht wurden nie entlassen, weil die Staatsanwälte sie nicht gehen ließen und dies wegen eines Dekretes, das unter dem Ausnahmezustand erlassen wurde, möglich ist.

Auch Anwälte sind bedroht. So gab es im November letzten Jahres eine Razzia bei Çağdaş Hukukçular Derneği (ÇHD), einer Anwaltsorganisation, die per Regierungsdekret geschlossen wurde. Ihr Chef, der Anwalt Selçuk Kozağaçlı, wurde festgenommen und sitzt immer noch in Haft.

Deniz Yücel wartet immer noch auf eine Anklage. Betrifft das auch andere Journalisten?
Ja, Deniz Yücel sitzt seit fast einem Jahr im Gefängnis und wartet bis heute auf seine Anklageschrift. Er ist zurzeit der einzige Journalist in dieser Situation, außergewöhnlich ist das aber nicht. Die Türkei benutzt routinemäßig und traditionell lange Untersuchungshaftzeiten als Strafe.

Inzwischen aber spielt das, glaube ich, kaum mehr eine Rolle. Denn: Warum will man schnell angeklagt werden? Damit der Prozess beginnt. Inzwischen aber bestehen massive Zweifel an der Fairness dieser Prozesse. Und darüber hinaus gibt es selbst dann nicht unbedingt eine Hoffnung auf Freilassung, wenn das Gericht sie anordnet, wie in den erwähnten Fällen von Altan, Alpay und anderen. Die Türkei ist also leider an einem Punkt angelangt, an dem es kaum noch einen Unterschied macht, ob eine Anklageschrift vorliegt oder nicht. Sie werden dich festhalten, wenn sie es wollen.

Gibt es etwas, das Sie sich von der deutschen Regierung wünschen?
Die deutsche Regierung hat sich im Fall von Deniz Yücel sehr engagiert und ich bin mir sicher, dass sie das auch weiterhin tun wird. Den Anwalt Veysel Ok hat dies positiv berührt.

Bezüglich der Frage, wie sich Europa oder Deutschland der Türkei nähern sollten, bin natürlich weder ich noch sonst jemand in der Lage, irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Ich persönlich denke, dass europäische Politiker oft ebenso ratlos sind wie wir.

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