Krankenversicherung für 100 Millionen arme Familien

Regierung kündigt Mega-Gesundheitsreform Modicare an - und stellt nur wenig Geld dafür im Staatshaushalt bereit

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.

Ihr Spitzname lautet in Anlehnung an das Vorbild der Gesundheitsreform von Barack Obama in den USA: Modicare. Mit einer staatlich finanzierten Basiskrankenversicherung will die indische Regierung unter Premier Narendra Modi 100 Millionen armen Familien den Zugang zu medizinischer Versorgung sichern. Was enorme Hoffnungen auslöst und als Megareform angepriesen wird, betrachten viele jedoch mit großer Vorsicht.

110 Milliarden Rupien pro Jahr, umgerechnet rund 1,45 Milliarden Euro, soll das Vorhaben kosten. Das zumindest ist die Zahl, die Finanzminister Arun Jaitley vor wenigen Tagen bei der Vorstellung des nationalen Haushalts 2018 nannte. Die Etatdebatte ist auch in der parlamentarischen Auseinandersetzung von Regierung und Opposition in Indien immer wieder einer der Höhepunkte.

Der Zeitpunkt für das ehrgeizige Projekt dürfte nicht zufällig ausgesucht sein. 2019 wird in Indien gewählt, die regierende hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) - vor knapp vier Jahren mit einem historischen Mandat gestartet - hat so manche Hoffnungen enttäuscht und, obgleich noch immer führend, einiges an Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt. Viele Maßnahmen hatten sich bisher auf die Mittelschicht fokussiert. Mit der neuen Krankenversicherung geht es nun aber konkret um die armen Bevölkerungsteile: Sie suchen bisher nur im Ausnahmefall (und damit bisweilen zu spät) einen Arzt auf, weil sie dessen Untersuchungen, Medikamente wie auch sonstige Leistungen (Operationen etc.) aus eigener Tasche bezahlen müssen. Kredite werden dazu aufgenommen, Schulden angehäuft, gerade längerfristige Behandlungen können da den finanziellen Ruin einer Familie bedeuten.

Ausgerechnet die ansonsten klar neoliberal ausgerichtete BJP hat nun ihr Herz für jene entdeckt, die sich die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens bisher kaum leisten können. Hintergrund sind neben dem nur schwer widerlegbaren Wahlkampfeffekt des Ganzen auch Studien, die untermauern, wie sehr die Ausgaben für Arztbesuch und Krankenhausaufenthalt die Armut verschlimmern.

Doch so lobenswert das Projekt erscheinen mag - Skeptiker sparen aus unterschiedlichen Perspektiven nicht mit kritischen Nachfragen. Einige betreffen finanzielle Aspekte. Trotz des weit höheren Bedarfs sind in den aktuellen Etat nur 20 Milliarden Rupien eingestellt. Keine Sorge, versucht die Zentralregierung zu beruhigen, weitere 50 Milliarden sollen im Jahresverlauf nachgelegt werden, sobald die Details zum Programm feststehen. Den Rest würden dann die 29 Unionsstaaten aus ihrem Budget tragen.

Ganz neu ist eine solchen Krankenversicherung für Arme nicht. Rashtriya Swasthya Bima Yojana (RSBY) nennt sich der Vorläufer, der 2008 von der damaligen Regierung der Kongresspartei (INC) unter Premier Manmohan Singh aufgelegt wurde - anfangs vor allem für Tagelöhner, später auch für andere Familien, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Nur 30 Rupien (40 Cent) Registrierungsgebühr müssen diese bezahlen, um einen Versicherungsschutz über bis zu 30 000 Rupien an jährlichen Ausgaben für medizinische Dienste zu bekommen. Allerdings haben von vorgesehenen 70 Millionen Familien Erhebungen zufolge nur rund die Hälfte die Versicherung auch abgeschlossen. Bei ähnlichen Programmen, die es auf regionaler Ebene gibt, sind die Umsetzungsquoten noch schlechter. Und für viele angeblich versicherte Leistungen müssen die Patienten trotzdem privat zahlen oder aber zusätzlich Schmiergelder entrichten, um an eine Behandlung zu kommen.

Das neue System hätte den großen Vorteil, dass die Versicherungssumme auf eine halbe Million Rupien jährlich angehoben wird. Damit ließe sich ein großer Teil verschiedenster Leistungen tatsächlich effektiv abdecken.

Die vielen noch offenen Details lassen eine abschließende Bewertung der Reform aber noch nicht zu. Sicher scheint hingegen, dass auch mit Modicare das zentrale Problem der unzureichenden Finanzierung des Gesundheitssektors bestenfalls halbherzig angegangen wird. Bisher ging nur ein Prozent der Staatsausgaben in diesen Bereich, ein extrem niedriger Anteil im internationalen Vergleich. In der Folge müssen Patienten in den staatlichen Krankenhäusern Schlange stehen, um überhaupt einen Arzt zu Gesicht zu bekommen, der ihnen dann vielleicht nur sagen kann, dass es an Personal und Ausrüstung für die notwendige Behandlung fehlt. Und nicht wenige Kranke müssen eine Tagesreise oder mehr auf sich nehmen, um einen Mediziner zu erreichen.

Gleichzeitig gibt es zahlreiche hoch spezialisierte und bestens ausgestattete Privatkliniken, die nur wohlhabenden Bürgern oder Gastpatienten aus dem Ausland offen stehen. Unter anderem aus den Golfstaaten kommen viele nach Indien, um sich in Hyderabad, Delhi oder Mumbai einem Eingriff zu unterziehen, was selbst mit den Flugkosten billiger kommt als in der Heimat.

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