Werbung

»Auf dem Balkon der Nächte...«

Mikis Theodorakis schrieb seine Erinnerungen

  • Gisela Steineckert
  • Lesedauer: 4 Min.
Er war für uns ein Held. Aber wir haben fast nichts von ihm gewusst. Für uns war er der aufrechte Kämpfer gegen die Unterdrückung des griechischen Volkes, und da er Kommunist genannt wurde, musste er doch auf der richtigen Seite der Barrikade kämpfen und seine Feinde, Gegner, Peiniger waren die Feinde schlechthin.
Seine Lieder wurden bei uns gesungen. Sie hatten große Melodien, erreichten die Gemüter und weckten eine Art eigenen Kampfgeist, der freilich nicht wusste, wohin, außer zum Guten gegen das Böse. Ich habe die »Mauthausen-Kantate« in die deutsche Sprache zu übertragen, nachzudichten versucht, und es gelang mir, die Singbarkeit der Lieder zu erhalten. Die wunderbare Sprache der Verse von Jannis Ritsos konnte ich nur bescheiden vom Sinn her nachahmen, und ich wusste wohl, dass manche Metapher, manches grandiose Bild in Griechenland auf eine andere Kulturerfahrung stoßen und also anders verstanden würde.
Dennoch, ich will es nicht nachträglich kleiner machen, die Lieder von Theodorakis waren als Liedgut wichtig, sie wurden geliebt und die Anteilnahme am fernen Schicksal, auch dieser Verfolgten in Griechenland, hauchte ihnen eigene Seele ein.
Was haben wir gewusst? Wörter, vor allem Wörter. Widerstand, Junta, die Inseln, erbarmungslose Sonne.
Wir haben nichts gewusst. Da ich nun seine Erinnerungen gelesen habe, stoße ich unentwegt auf unsere vergangene Unwissenheit und auf den Leichtsinn, mit dem wir Urteile wagten. Nachdem der Komponist freigelassen worden war, kam er nicht zu uns, um uns für alle unsere Gefühle zu danken, er ging nach Österreich. Und er hörte auf, zu kämpfen. Am Ende seiner Kräfte angelangt, nach unvorstellbaren Qualen mehrfacher Folterungen, zog er sich zurück, wissend um eine Unterlegenheit, die sich zu seiner Lebenszeit nicht mehr ändern würde. Er kehrte heim zu den frühesten Wurzeln hellenischer Philosophie und Kultur, zur Sehnsucht nach Demokratie und Freiheit.
Ich habe nicht gewusst, dass auch Mikis Theodorakis jener gewaltigen Sprache mächtig ist, die mich damals, bei Jannis Ritsos, so beeindruckt und, als Maßstab, wahrscheinlich mit geprägt hat. Da entsteht eine Landschaft mit all ihren Gerüchen, Farben und Sitten, so lebendig, dass in der eigenen Brust eine Art Heimweh nach der Fremde geweckt wird. Ich war nie dort und würde so nicht leben wollen. Nicht so, wie die Frauen dort zu leben gewohnt sind. Und die Behauptung von der eigentlichen häuslichen Herrscherin ist doch längst widerlegt.
Aber was eine Familie, eine so weit verzweigte Sippe zusammenhalten kann, das ist für uns schwer vorstellbar. Auf Kreta steht die Familie, die Zugehörigkeit zu ihr, über anderem Glauben und anderer Gesinnung. Mag er Kommunist sein unter all den Antikommunisten der »Familie«, sein Leben muss gerettet werden, und so nimmt ihn die Familie nach dem Spruch des Patriarchen auf, er soll gepflegt werden, »bis er wieder tanzt«. Kreta besteht aus solchen weitherreichenden Familien, und aus ihnen kommt die Kraft, die sie die einen wie die anderen Eroberer, Unterwerfer und blutigen Mörder überleben ließ. Da ist etwas, das haben wir nicht.
Es entstammt einer Kultur, die mehrmals untergegangen und in den Söhnen der Söhne wieder auferstanden ist.
Eine Leidensgeschichte, die so nicht zu uns spricht. Wie Theodorakis Musik nicht ahnen lässt, wie sehr ihre Quelle von Marterung, Kerker und Niederlagen bedroht wurde. Die Musik rühmt das Leben, mag es ein Überleben sein. Was für ein Mensch, was für ein Stück Zeitgeschichte.
Beim Lesen stockte mir manchmal der Atem, aber manchmal auch konnte ich tiefer Luft holen, als säße ich auf Kreta mit am Tisch und all die wundersamen Liebesgeschichten, wo die Gefühle so groß sind und das Ende meist schrecklich, die wären alle wahr, denn sie werden erzählt, als gehörte ich dazu.
Das »Anliegen« hat mich damals getrieben, der Respekt hätte mir untersagen sollen, mich an etwas zu wagen, von dessen Urgrund ich nichts verstand. Die Ahnungslosigkeit ist mir nicht erhalten geblieben. Das Leben bewahrt uns vor keiner Belehrung.
Ich fürchte und liebe dieses Buch.

Mikis Theodorakis: Bis er wieder tanzt. Erinnerungen. Aus dem Griechischen von Asteris Kutulas. Insel Verlag. 200Seiten, gebunden, 19,80.
Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal