Distanz und Empathie

Wolfgang Krolows Bilder eines verschwundenen Kosmos namens Berlin-Kreuzberg

  • Mirco Drewes
  • Lesedauer: 4 Min.
Dauerparkplatz in der Dresdener Straße, 1981
Dauerparkplatz in der Dresdener Straße, 1981

Er war der Mann mit der Kamera. Kreuzberg war seine Welt. Als Wolfgang Krolow 1972 von Mannheim nach West-Berlin kommt, hat der Student der Visuellen Kommunikation an der Hochschule der Künste, gerade mal 22 Jahre alt, bereits einiges an Lebenserfahrung gesammelt. Freiheitsliebend hatte er, aus gut situiertem Elternhaus stammend, kurz vor dem Abitur die Schule geschmissen und war per Anhalter in die Türkei, nach Syrien, den Iran, nach Afghanistan und schließlich in den Irak gereist. Der Trip auf der Hippie-Route findet sein Ende in einem irakischen Lehmloch, in dem er, der Spionage verdächtig, gefangengehalten wird. Krolow hatte die Leichen hingerichteter Gegner des Baath-Regimes fotografiert.

Dank der Initiative seiner Mutter und des deutschen Konsulats wird er aus der Haft entlassen und kehrt nach Deutschland zurück. Er holt das Abitur in der pfälzischen Provinz nach und studiert Bildhauerei und Grafik an der Kunstakademie Mannheim. Doch übt die Insel West-Berlin mit ihrer gedeihenden alternativen Szene und der Aussicht auf ein Leben ohne Wehrpflicht ihren Zauber als Sehnsuchtsort aus und Krolow erliegt.

Krolow verdingt sich als Gelegenheitsarbeiter, zunehmend gelingt es ihm, als freischaffender Fotograf sein Einkommen zu bestreiten. Seit der Mitte der 1970er Jahre bildet Kreuzberg den Mittelpunkt seines Lebens und Schaffens. 1977 zieht er an den Chamissoplatz und verschmilzt künstlerisch mit diesem einzigartigen Biotop, das heute, so muss man es sagen, nicht mehr existiert. Hier leben im Schatten der Mauer am äußersten Ostrand der West-Berliner Insel vor allem Türkei-stämmige sogenannte Gastarbeiter mit ihren Familien neben alteingesessenem Kleinbürgertum – und der linken Hippie-, Punk- und Hausbesetzerszene.

Wolfgang Krolow, ein freundlicher, hagerer Mann mit längerem, struwweligem Haar und Lederjacke bewegt sich in diesem von der Politik sich weitgehend selbst überlassenen, maroden, frühen Boheme-Kiez mit einer unaufgeregten Nahbarkeit und Aufgeschlossenheit in allen hier gedrängten Milieus. Die türkischen Kinder freuen sich, wenn Krolow mit seiner Kamera auftaucht, posieren lachend oder lassen ihn unbefangen ihr kindliches Spiel ablichten. Das Vertrauen der Punks gewinnt er, als »Hippie« zunächst Persona non grata in den Szenekneipen, am Tresen. Und darf schließlich das Alltagsleben dieser verschiedenen Kreuzberger Lebenswelten, die dennoch immer wieder Symbiosen eingehen und sich vermischen, mit der Kamera festhalten.

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Seine Bilder der sozialen Realität verraten, dass der Fotograf mit der abgebildeten Lebenswelt eins ist. Es sind Fotografien auf Augenhöhe, seine Objekte dürfen Subjekte sein, gerade in ihrer Ungeschöntheit, in der Kaputtheit des Ambientes, das sie beleben. Krolow fotografiert über anderthalb Jahrzehnte Demonstrationen, vor allem die Ruhe nach dem Sturm, Straßenfeste, besetzte Häuser und deren Bewohner*innen bei Instandsetzung und Protest, Porträts und Straßenszenen arbeitender türkischer Männer, feiernde Punks und in den Kulissen des von der Politik nur zum Abriss vorgesehenen Stadtteils spielende Kinder. Daneben Hausfassaden und ganze Straßenzüge, die dieser Menschenfänger dank seiner Kameradschaft mit dem örtlichen Schornsteinfeger von den Dächern Kreuzbergs in Szene setzt. Die Fotografien Krolows verraten einen hervorragenden Blick für den Bildausschnitt, Geistesgegenwart und enorme Empathie. Es sind Perspektiven eines meisterhaft geschulten Fotokünstlers und, so muss man es sagen, Menschenfreundes, dessen Herz links schlug. Die Distanz zu seinen Motiven wird dialektisch von der Sympathie aufgefangen, das macht die Spannung seiner Bilder aus.

Dass Krolows Fotos einen Beitrag zur Förderung der Widerstandskultur leisten sollten, daraus hat der 2019 verstorbene Künstler nie ein Geheimnis gemacht. Dennoch: Seine Fotos sind kein Agitprop. Sein Werk ist eine Chronik der gesellschaftlichen Konflikte, die West-Berlin und insbesondere Kreuzberg in den 1970er und 1980er Jahren bewegten und die weit über das Biotop hinausweisen, die exemplarisch stehen für den Kampf um bezahlbaren Wohnraum, ein gutes Leben ohne Angst vor Repression und Faschismus, für eine Stadt für alle, ein nicht verkauftes Leben.

Heute, da viele der seinerzeit gehegten Hoffnungen vernichtet sind, stimmt das Eintauchen in das Werk Krolows sehnsüchtig und wehmütig, seine Fotos berühren unmittelbar und rufen in Erinnerung, worum es nach wie vor zu kämpfen gilt. Vor allem machen sie Hoffnung auf bessere Zeiten, denn sie lassen erahnen, was vieles verändern würde: Wenn wir uns stärker als Teile einer gemeinsamen Welt begriffen. In der Assoziation A ist nun unter dem Titel »Kreuzberg die Welt« eine große Werkschau Wolfgang Krolows als epischer Bildband erschienen. Ein ikonischer Bilderschatz Berliner Gegenkultur.

Sigrid Heger, Andreas Homann und Rainer Wendling (Hrsg.): Kreuzberg die Welt. Fotografien von Wolfgang Krolow. Assoziation A, 280 S., geb., 44 €.

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