Strom und Schönheit

Auszug aus dem Buch »Buenos días, Kuba«: Reise durch ein Land im Umbruch.

  • Landorf Scherzer
  • Lesedauer: 8 Min.

Wir suchen das Dorf La Guinea. Davon hat die Bibliothekarin noch nichts gehört. Aber sie beginnt sofort zu telefonieren.

»Wir sind in Las Terrazas eine große Familie. Nach meinem Anruf werden sich alle bemühen, und irgendjemand wird dieses Dorf kennen.«

Landolf Scherzer

Landolf Scherzer beschäftigt sich seit vielen Jahrzehnten mit den Schwierigkeiten und Folgen von politischen Umbruchprozessen.

eine Reportage »Der Erste« über einen SED-Kreissekretär lieferte 1988 einen ungewohnten Einblick in den Parteiapparat. Bei den Reisen, die er seitdem unternommen hat, hat er oft den Zufall auf seiner Seite. Kaum ist er auf Kuba, stirbt Fidel Castro, er erlebt ein Land im Ausnahmezustand. Um so drängender wird die Frage, wie die Ideale der Revolution in der Gegenwart bestehen.

Wer in Kuba viel fragt, dem wird wenig erlaubt, lernt Scherzer schon am ersten Tag in Havanna. Also macht er es bei seinen Recherchen wie die Kubaner, er geht Umwege und improvisiert. Jede Busfahrt, jeder Einkauf, jeder Spaziergang beschert ihm überraschende Begegnungen und Lebensberichte.

Der nebenstehende Text ist ein Auszug aus Landolf Scherzers Buch »Buenos días, Kuba: Reise durch ein Land im Umbruch«, das am 9. März erscheint (Aufbau Verlag, 367 Seiten, 22 Euro).

Die Dorffamilie funktioniert. Jedenfalls steht ein Mann vor der Tür und sagt: »Ich fahre euch nach La Guinea. Es ist sehr klein und wahrscheinlich auf keiner Landkarte eingezeichnet. Aber nur zehn Kilometer entfernt.«

Obwohl uns kein Auto begegnet, fährt Norberto langsam, schaut suchend auf die steil ansteigenden, dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsenen Berghänge, bremst an einer Stelle und erklärt, dass hier oben in der aufgeforsteten und nun schon wie ein Dschungel aussehenden Landschaft die Hütte der Eltern gestanden hat. »Ein steiniges Feld. Keine Schule. Kein Strom. Keine Wasserleitung. Kein Arzt.« Dann habe Fidel sie aus den Bergen heruntergeholt und gesagt: Wir bauen gemeinsam ein Dorf mit allem, was euch bisher gefehlt hat.

Von der Straße, die laut Wegweiser nach Soroa führt, biegen wir rechts in einen Seitenweg ab. Dort steht kein Schild. Aber Norberto ist überzeugt, dass wir in dieser Gegend die Häuser von La Guinea finden. Zuerst sehen wir jedoch weder Häuser noch Menschen. Nur Schweine. Sie laufen in dem mit Draht eingezäunten und von Dornenhecken begrenzten Unterholz des Dschungelwaldes umher.

»Wo Schweine sind, gibt es auch Menschen«, sagt Norberto und erklärt, dass Schweine hier, wie anderswo Ziegen und Schafe, frei gehalten werden. Meist würden die »Schweineherden« einer landwirtschaftlichen Kooperative gehören.

Er fragt, ob wir den Unterschied zwischen den Bergdörfern und Havanna kennen. »Hier leben Schweineherden im Wald. In Havanna Einzelschweine auf dem Balkon oder der Dachterrasse.«

In der Hauptstadt kennt er nämlich eine alte Küchenfrau, die auf ihrem Balkon ein Schwein mit Abfällen füttert. Weil die Viehhaltung auf einem Balkon verboten ist, hätte die Wohngebietsverantwortliche vom »Komitee zur Verteidigung der Revolution« sie ermahnen wollen. Doch die wäre bald still gewesen, denn die Küchenfrau wusste, dass im Hausflur der Verteidigerin der Revolution zwei Hennen ihre Eier legen.

Norberto lacht noch, als er an einer Stelle anhält, an der auf der rechten schweinefreien Straßenseite die felsigen Wände enden und eine leiterähnliche Holztreppe nicht hinauf-, sondern hinunterführt. Auf einer freien Fläche stehen unter einem auf Pfählen ruhenden Dach Bankreihen. Daneben ein schuppengroßes Häuschen und dahinter mehrere Paneele für Solarstrom. Norberto mutmaßt, dass es der Versammlungsplatz für die Mitglieder der Kooperative ist. Doch nirgends sehen wir einen Menschen. Nur ein Hund bellt irgendwo.

Im Gebüsch findet unser Fahrer einen Drahtzaun, den er öffnet. Der Hund läuft nicht frei umher. Er ist an den Pfosten eines Häuschens gebunden. Vor diesem Haus mit Bretterwänden und Wellblechdach kniet ein Mann auf einer Plastefolie und schaufelt mit den Händen hellbraune Kaffeebohnen von einer Seite auf die andere. Er steht auf, und als er meine Dolmetscherin Julie sieht, versucht er, seinen Hosenbund über den extrem dicken nackten Bauch zu ziehen. Das gelingt ihm nicht. Also lacht er nur und gibt uns die Hand.

»Ich bin Marquito.« Sein Oberkörper glänzt in der Sonne. Die Jeans ist an den Knöcheln umgeschlagen, er läuft barfuß. Seine Augen sind ein wenig zusammengekniffen, doch freundlich. Am auffälligsten ist eine Zahnlücke, durch die er wahrscheinlich seine Zunge stecken könnte.

Vor der Hütte stehen drei Solarzellen.

»La Guinea?«, frage ich.

»¡Sí! - La Guinea!«

Seit einem Jahr haben die Dorfbewohner Strom. Doch bevor er uns drinnen »das Licht« zeigt, müssen wir sein Reich um das Häuschen herum begutachten. Bananenstauden, Kaffeesträucher, Mangobäume, Palmen, Bambus und marabú-Büsche wachsen wild durcheinander.

Die Früchte und der Kaffee sind für seinen Eigenbedarf. Wir sollen kosten. Noch nie zuvor habe ich solch süße Bananen gegessen, und die ungerösteten - deshalb hellbraunen - Kaffeebohnen schmecken wie Espresso mit sehr viel Milch. Hinter dem kleinen Haus hat er Holzstangen zu einem Meiler aufgestellt.

»Das wird Kohle. Nur für mich. Ich koche mit Holzkohle.« Am besten sei die Kohle aus dem ansonsten unnützen Holz des marabú. Einige Köhler hätten sich darauf spezialisiert, und inzwischen sei diese Kohle aus dem wohl nur auf Kuba so üppig wuchernden Farbkätzchenstrauch sogar in den USA begehrt. Für ihn wäre es zu viel Arbeit, denn um den marabú aus dem Boden zu reißen, brauchte man einen kleinen Bagger. »Und ich besitze nur ein Hacke, eine Schaufel, die Machete und meine Hände.«

Sein Geld verdient er mit den oft einen Quadratmeter großen, wie Pergament aussehenden abgeschälten Palmenrinden, die die Kooperative an die Tabakproduzenten verkauft. »Die Tabakblätter erhalten zwischen den Rinden eine bessere Fermentierung. Aus ihnen werden später die Export-Zigarren gewickelt.« Manchmal bekommt Marquito deshalb zum nationalen Peso-Lohn zusätzlich ein paar Tabak-Export-CUCi.

Stolz zeigt er uns seine Wasserleitung, einen dünnen Schlauch, den er auseinanderkuppeln kann. Das Wasser kommt aus einer Quelle im Gebirge.

Wir trinken wie er aus dem Schlauchende. Das Wasser ist kühl und klar.

»Hier kann ich leben«, sagt er und lädt uns in sein Haus ein. Als wir hineingehen, wedelt der Hund mit dem Schwanz. Auf der festgestampften Erde stehen vier weiße Batteriekästen. In Kopfhöhe ist ein Brett befestigt. Darauf steht ein kleines Radio. Daneben Kabel und Schalter. In der Mitte des schmalen Raumes baumelt an der Decke eine Lampenfassung mit einer Glühbirne.

Für den Strom, also die Solarpaneele, Batterien, Leitungen und Schalter, zahlt Marquito der Kooperative im Monat 20 Peso nacionalii. (Und nun rechne ich wieder einmal: also 80 Eurocent.)

»Wenn ich weggehe, muss ich die neue Elektrizität hierlassen. Sie ist Eigentum der Kooperative«, erklärt er.

Seit dreißig Jahren lebt er in dieser Gegend. Nachdem der Hurrikan die Häuser zerstörte - »und Fidel schon am nächsten Tag bei uns war« -, hat Marquito das Haus wiederaufgebaut.

Er zeigt uns die im Freien angebaute Küche mit einem aus dicken Betonplatten zusammengefügten Herd, der wie der Eingang zu einem unterirdischen Schutzbunker aussieht.

An die Innenwand des Hauses gelehnt, steht eine aus schwerem Tropenholz getischlerte, mit Schnitzereien verzierte dunkle Tür. »Sie ist 106 Jahre alt und gehörte der Urgroßmutter. Erst hat sie mein Vater von Haus zu Haus mitgenommen und nun ich. Man muss das Alte bewahren, um es mit dem Neuen verheiraten zu können«, sagt Marquito.

Er drückt einen Schalter an den Batterien, dann einen an der Wand und nickt wissend, als die Glühbirne aufleuchtet. Danach dreht er am Radio. Musik und elektrisches Licht!

»Zuvor hatte ich hier nur eine Ölfunzel. Und ohne Strom wüsste ich heute noch nicht, dass Fidel gestorben ist.«

Die Energie der Solaranlage würde außer für die Glühbirne und das Radio für einen Ventilator, einen Fernseher oder einen Kühlschrank reichen. Doch Marquito hat kein Problem mit der Auswahl. »Ich kann mir weder das eine noch das andere kaufen.«

Bevor wir gehen, will er uns den besten Kaffee kochen, den wir im Leben getrunken haben.

»Es dauert nur fünf Minuten.«

Er schüttet Holzkohle in die Feuermulden des Betonherdes, legt dürre Zweige darüber und zündet sie an. Dann stellt Marquito eine alte Kaffeemühle auf seinen Bauch und kurbelt, bis der Schweiß rinnt. Nach 15 Minuten - so lange braucht die Holzkohle, bis sie glüht - gießt er Bergwasser aus dem Schlauch in das Bodenteil der Espressomaschine und stellt sie in die Glut.

Aus den fünf Minuten werden zwar fünfzig, aber es stimmt: Noch nie habe ich solch einen aromatischen, starken, meine Mutter würde sagen, Tote zum Leben erweckenden Kaffee wie den von Marquito getrunken.

Die Glühbirne brennt immer noch. »Sonst schalte ich das Licht, das mir geschenkt wurde, am Tag aus. Aber heute leuchtet es für euch.«

Ich erzähle ihm von den Solidaritätsspenden der deutschen Kuba-Freunde. Und Marquito wandelt den Spruch von Che, den er in der Schule gelernt hat, ab und sagt, dass die Solidarität der Menschen untereinander die Zärtlichkeit der Völker sei. »Sie ist so wichtig wie die Zärtlichkeit einer Frau.«

Er hat noch keine Frau. Lächelnd und ein wenig durch die Zahnlücke pfeifend, schlägt er vor, dass wir Julie hierlassen. Er werde ihr ein Haus bauen.

»Nein, ich möchte sie natürlich nicht für mich. Nur für die Schönheit unseres Dorfes. Strom und Schönheit gehören doch zusammen.«

Er drückt uns an seinen schweißnassen Bauch, küsst Julie auf beide Wangen und beteuert noch einmal, dass er hier glücklich ist. Das sollten wir überall zu Hause erzählen, wenn man uns fragt, wie er, Marquito, der Bergbauer und Köhler, mit seinem Hund, den Bananenstauden, Kaffeesträuchern, dem Kohlenmeiler, den Mangobäumen, Palmen, dem Bambus, dem marabú, der Bergwasserleitung und dem neuen Licht der Sonne lebt.

Hinter seiner Hütte liegen viele leere Medikamentenpackungen gegen chronischen Bluthochdruck.

Norberto fährt mit uns von Marquitos einsam stehenden Haus die Dorfstraße hinunter. Am Kulturhaus hängt eine Tafel: »Die Elektrifizierung dieses Zentrums der Soziokultur wurde ermöglicht durch eine Spende der Familie VOIGT aus der Stadt ERFURT/Deutschland.«

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