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Ein gemeinsamer Kampf dort und hier

Yavuz Fersoglu vom kurdischen Verband NAV-DEM über die Chance einer Demokratisierung im Nahen Osten, die weltweiten Proteste gegen den Krieg in Afrin und Erwartungen an die neue Bundesregierung

Auf den türkischen Krieg gegen Afrin in der Demokratischen Föderation Nordsyrien (Rojava) haben auch Staaten wie die USA, Russland, Syrien und Iran erheblichen Einfluss. Steht Rojava im Zentrum der neuen imperialen Konflikte?

Ja, in Rojava und auch in Syrien sind verschiedene regionale und internationale Kräfte vertreten. Zahlreiche Länder sind dort direkt mit ihren Armeen oder indirekt wie Saudi-Arabien mit Söldnertruppen präsent. Die Türkei hat schon vor ihrem Angriffskrieg mit Unterstützung des Islamischen Staats und der Al Nusra versucht, sich in Nordsyrien Geltung zu verschaffen. In dieser Gemengelage haben die kurdischen Kräfte eine demokratische Selbstverwaltung aufgebaut und immer versucht, Rojava und seine Einwohner, die verschiedenen Ethnien und Religionen zu beschützen. Die internationalen Kräfteverhältnisse hatten den Vorteil, dass man sich Räume erkämpfen konnte, indem man verschiedene Interessen für sich nutzte. Aber die verschiedenen Beteiligten verfolgen auch ihre eigenen Interessen, wie wir gerade erleben.

Zur Person
Yavuz Fersoglu ist Vorstandsmitglied des Demokratischen Gesellschaftszentrums der KurdInnen in Deutschland (NAV-DEM), das sich als Dachorganisation versteht, die neben den kurdischen Vereinen auch die Selbstorganisierung der Kurdinnen und Kurden im politischen, religiösen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereich umfasst. Fersoglu lebt in Hamburg und war im Vorbereitungskreis der Demonstration »Grenzenlose Solidarität statt G20«, an der im Juli 2017 knapp 80 000 Menschen teilgenommen haben. Mit ihm sprach für »nd« Niels Seibert.

Welche Rolle kann Rojava in der offenen Demokratiefrage des Nahen Ostens spielen?

Rojava ist gegenwärtig das demokratischste Modell im Nahen Osten. Von Iran über Saudi-Arabien bis zur Türkei gibt es kein Quäntchen demokratische Verhältnisse. Die Frau kommt dort, wie ein Sprichwort sagt, erst nach dem Ochsen. Die Revolution in Rojava kann zur Demokratisierung der Region beitragen, was die Befreiung der Frauen, aber auch die Religionsfreiheit angeht. Nicht nur die Kurden in Syrien, auch viele Araber sehen das selbstverwaltete Projekt Rojava inzwischen als einen Weg in die Befreiung. In Rakka und vielen anderen Teilen Syriens haben die Menschen die Ideen übernommen und versuchen, sie zu leben.

Jetzt wird dieses Projekt von der Türkei in Afrin angegriffen. Dagegen gibt es weltweit Demonstrationen. Was sind die Perspektiven dieser Proteste?

Der Kampf wird natürlich in Afrin geführt und dort entschieden. In Afrin steht die zweitstärkste Armee der NATO den Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ gegenüber, die nicht mal Flugabwehrraketen und Panzerabwehrwaffen haben. Wir hier im Westen können nicht viel mehr als ein Sprachrohr für Afrin sein, Öffentlichkeit schaffen, internationale Solidarität organisieren und moralische Unterstützung leisten. Aber Kriege werden nicht nur mit Waffen geführt, daher sollten die weltweiten Solidaritätsaktionen nicht unterschätzt werden. Wir können auf die Bundesregierung einwirken, dass sie ihre Unterstützung als Kriegspartei an der Seite des türkischen Regimes beendet. Damit leisten wir auch einen Beitrag zur Einhaltung internationaler Rechtsnormen.

Internationale Solidarität war in den vergangenen 30 Jahren kaum sichtbar. Mit dem Kampf um Kobane 2014 und der Befreiung vom IS im darauffolgenden Frühjahr ist wieder eine breite Solidaritätsbewegung entstanden. Wie erklären Sie sich das?

Das liegt am Charakter der Revolution in Rojava. Sie ist eine ökologische Revolution, die im Einklang mit der Natur steht und nicht im Dienste kapitalistischen Profitstrebens. Es gibt eine fortschrittliche Bewegung, die nicht in nationalstaatlichen Grenzen denkt, die sich nicht nur für die Rechte der kurdischen, sondern aller Menschen einsetzt. Es sind dieselben Inhalte, für die auch hier Menschen schon lange auf die Straße gehen. So besteht eine Verbundenheit zwischen den Kämpfen dort und hier. Und in all dem scheint auch die Perspektive auf, dass es noch einen anderen Weg als den des Kapitalismus gibt.

Welche Auswirkungen hat die Idee des demokratischen Konföderalismus, die in Rojava gelebt wird, auf die kurdische Gemeinschaft hierzulande?

Das Projekt Rojava ist in der kurdischen Geschichte einmalig. Die Ideale, die dort gelebt und verteidigt werden, sind für sehr viele Menschen, die aufgrund der Verfolgung aus der Region geflohen sind, ein starkes Symbol, das bis hierher ausstrahlt. Zum Beispiel haben wir hier ähnliche Strukturen entwickelt. In den kurdischen Vereinen gibt es zwei Co-Vorsitzende, eine Frau und einen Mann. Es gibt auch hier eine eigenständige Frauenorganisation, was zur Folge hat, dass sich viel mehr Frauen engagieren und für ihre Rechte einstehen. In jedem Verein gibt es eine Arbeitsgruppe zu Ökologie, zu Frauenrechten und zu Minderheiten. So war Rojava beispielgebend für die Strukturen hier in Europa.

Das PKK-Verbot in der Bundesrepublik jährt sich in diesem Jahr zum 25. Mal. Wie bewerten Sie, dass die Bundesregierung daran festhält und es sogar ausweitet in Form von Verboten weiterer kurdischer Flaggen und Symbole?

Früher wurden hier auch der ANC oder die PLO als Terrororganisationen diffamiert. Deswegen wissen doch alle, wie es einzuschätzen ist, wenn die Bundesregierung behauptet, die PKK sei eine Terrororganisation. Im Fall der PKK steht man jedoch vor der besonderen Situation, dass die Türkei schon lange ein NATO-Verbündeter der Bundesrepublik ist, und dass die Bundesregierung über die Türkei ihre Politik zum Nahen und Mittleren Osten bestimmt hat. Kein anderes europäisches Land hat die PKK so verfolgt wie Deutschland. Hier sind beispielsweise die PKK-Fahnen verboten und dürfen nicht auf Demonstrationen geschwenkt werden. Die Bundesregierung fährt im Interesse und auf Verlangen des türkischen Staates oft auf subtile Weise eine ganz harte Linie, die einen großen Teil der kurdischen Migrantinnen und Migranten bevormundet, kriminalisiert und sie ins Abseits des politischen Lebens drängt. Das kann nicht hingenommen werden.

Jetzt ist davon auszugehen, dass die neue Bundesregierung wieder Waffen aus deutscher Produktion an die Türkei liefern wird ...

Ja, auch das spricht für die deutsche Politik, obwohl es bewiesen ist, dass dieses Kriegsgerät dort in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg eingesetzt wird. Schon in der Vergangenheit hat man darüber hinweggeschaut, wie die Türkei im eigenen Land gegen die kurdische Bevölkerung Krieg geführt hat. Heute schaut man weg, wie die Türkei in andere Länder eindringt, um den kurdischen Widerstand zu eliminieren.

Haben Sie Erwartungen an die neue Bundesregierung?

Die Türkei ist nicht mehr die Türkei, die sie vor drei oder fünf Jahren war. Seit dem Militärputschversuch im Juli 2016 entwickelt sich das Land mit großen Schritten zu einem faschistoiden Staat, zu einer islamistischen Republik. Insofern ist es nicht zu viel verlangt, wenn man von der neuen Bundesregierung erwartet, dass sie jegliche Unterstützung des türkischen Staates einstellt, solange in der Türkei Menschenrechte verletzt, solange in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung und über die Grenzen der Türkei hinaus Kriege geführt werden. Wie mit Kobane, als aufgrund des öffentlichen Drucks viele Staaten nicht mehr stillschweigend zuschauen konnten, hoffen wir, dass jetzt mit Afrin eine ähnliche Situation entsteht. Denn es sind dieselben Kräfte, die gegen die Banden des IS kämpften und sich heute gegen den türkischen Angriffskrieg verteidigen.

Werden die zahlreichen Proteste gegen den türkischen Einmarsch weitergehen?

Es stehen verschiedene Aktionen sowohl in Deutschland als auch in Europa an. Für den 3. März ist in Berlin die bundesweite Demonstration »Gemeinsam gegen die türkischen Angriffe auf Afrin« geplant. Solange diese Angriffe weitergehen, werden wir hier unseren Protest auf die Straße tragen, nach Bündnispartnern suchen, gemeinsam mit möglichst vielen Menschen und Gruppen versuchen, dem Krieg Einhalt zu gebieten.

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