Kratzer an der Hochglanzoberfläche

Georg Klein führt mit wortgewaltiger Nüchternheit in das bedrohlich wabernde Innenleben eines Superorganismus

  • Britta Steinwachs
  • Lesedauer: 3 Min.

Tief unten in dieser hermetischen, ganz und gar sonderbaren und mit glitschigem Schleim bewandeten Gängewelt kriechen sie Tag für Tag aus ihren Schlafkojen, um sich schnurstracks an das »weiche Glas« zu setzen und den Bilderfluss pflichtbewusst in Gang zu halten. Ab und zu geschieht es, dass im »zukunftsmunteren Abendlicht des Binnenfrühlings« eine »gut ausgereifte, rüsselartig verbogene Stablampe aus der Wand ragt«, damit ihr Licht auf die kleine, schmatzend aus der bleichen Wand entstandene Zelle fällt, in der die neuen Overalls für die Abteilung bereitliegen.

Zur Mittagspause treibt es die Arbeitskollegen dann routiniert in einen der frisch herausgebildeten Nährgänge, wo die »Volksfrauen« »Dicksprossen« aus der Wand pulen und die Büroangestellten feindselig beäugen. In dieses bedrohlich wabernde Innenleben eines Superorganismus führt Georg Klein in seinem neuen Roman »Miakro«.

Der Titel ist eine Wortneuschöpfung aus Mikro und Makro. Es ist diese Perspektive, die einen bei der Lektüre von Beginn an gefangen hält zwischen der Frage nach dem großen Ganzen, dem Masterplan dieses mysteriösen »Undings«, und der erdrückenden Banalität des »innwändigen« Büroalltags.

Diese verborgene, vermeintlich so ferne Welt bildet viele Anknüpfungspunkte an das Hier und Jetzt, die bei genauerem Hinsehen gar nicht mehr so fremd sind: Das in »Miakro« gezeichnete Szenario kratzt kritisch an der Hochglanzoberfläche unserer mehr und mehr technisierten Welt. Uniformierte Individuen gehen ameisengleich ihrer Arbeit nach, als folgten sie einem Naturgesetz. Sie agieren fremdgesteuert auf Befehl ihrer individualisierten, immer smarter werdenden Geräte.

Dafür starren sie auf hyperintelligente Bildschirmsysteme. Die Frage wird greifbar, in welche Richtung sich diese Lebenswelt entwickeln kann in Zeiten hoch automatisierter Arbeitssteuerungssysteme, in der Ära von Big Data, Virtual Reality und im Zeichen einer allgemeinen Bilderflut auf dem Smartphone, wenn die Macht darüber in den Händen einer zahlenmäßig kleinen gesellschaftlichen Elite liegt.

Zugegeben, der Einstieg ins Buch fällt nicht leicht. Das ist bei den Büchern von Georg Klein, der den Preis der Leipziger Buchmesse bereits im Jahr 2010 für seinen »Roman unserer Kindheit« erhielt, fast immer so. In »Miakro« verliert man sich zuweilen in der Fremdheit einer klaustrophobischen Welt. Man kämpft sich blind hindurch, weil einem die bekannten Begriffe fehlen in diesem eigentümlichen Universum der »krisenhaften Materialschachtöffnungen«, »Nährflurfehlbildungen« und »Schockstöcke«.

Sobald man sich jedoch Halt in ihm verschafft hat, nimmt das Geschehen rasant an Fahrt auf und zieht einen in einen wunderlichen Bann. Eine fiebrige Erkrankung reißt den Chef des »mittleren Büros« unerwartet aus seinem Trott und bewegt ihn dazu, sich gemeinsam mit den drei Kollegen Schiller, Guler und Axler auf die Suche nach einem verschollenen Kollegen und der unendlich fern erscheinenden Außenwelt zu begeben. Während die vier unzulänglichen Helden sich ihren Weg durch das verstörend lebendige Labyrinth bahnen, tüftelt die beinharte »Naturkontrollagentin« Xazy in einem militärischen Spezialkommando an der Bergung verschollener Einsatzkräfte aus dem unterirdischen Organismus herum.

Auf dieser zweiten Ebene eröffnet sich eine irritierende Verflochtenheit der Erzählung zwischen Innen- und Außenwelt. In der feuchten Tiefe sorgen dubiose Heiler namens »Wandler« in langen Kutten mit magischen Scheiben für die Linderung der Schmerzen, im Außen nennen dieselben Gestalten sich »Wunderer«. Bewusstseinsströme fließen durch ein simultanes Zeit-Raum-Kontinuum, und Personen erinnern sich bruchstückhaft an ihre außerwändische Existenz.

Um die Schnipsel dieser skurrilen und wilden Melange aus Science-Fiction, Fantasy und Thriller zu einem ganzen Bild zusammenzusetzen, braucht es viel Phantasie. Genau jene kühne Phantasie vielleicht, mit der es dem Autor gelingt, diese bedrohliche Unterwelt-Tristesse mit wortgewaltiger Nüchternheit plastisch vorstellbar und sinnlich erlebbar, ja beinahe sogar riech- und schmeckbar zu machen.

Georg Klein: Miakro. Roman. Rowohlt, 336 S., geb., 24 €.

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