Erzähltes Denken

Die letzten Gespräche mit dem marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz sind nun in einem Buch erschienen

  • Jörg Zimmer
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Gespräche, die Arnold Schölzel und Johannes Oehme mit Hans Heinz Holz noch kurz vor dessen Tod im Jahr 2011 geführt haben, sind unter dem schönen Titel »Die Sinnlichkeit der Vernunft« erschienen. Das Buch ist ein außerordentlich wichtiges biographisches Dokument, das in der lockeren Form der Unterhaltung über den historisch-politischen Motivierungshintergrund des bedeutenden marxistischen Philosophen berichtet.

Holz erzählt uns aus seiner Kindheit, vom preußischen Familienhintergrund, von der Atmosphäre, in der er in »einem Gehäuse von Geborgenheit« bei seiner Mutter aufgewachsen ist. Frühe Bildungserlebnisse des oft kranken Kindes, der Hass auf die Nazis, der durch den Tod jüdischer Freunde in der sogenannten Kristallnacht entsteht, Schulerfahrungen verdeckten Widerstandes, der durch das Übersetzen des Wehrmachtsberichtes ins Lateinische gefördert wurde, schließlich die Bekanntschaft mit einem kommunistischen Arbeiter in der Gestapohaft, durch den Holz zum Marxismus kommt - all das sind frühe Prägungen, die das umfangreiche Werk des Philosophen beeinflusst haben, von denen bisher aber nur spärlich in der Öffentlichkeit die Rede gewesen ist. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, uns diese Informationen in der spannenden Form erzählten Lebens zugänglich zu machen.

Eine ungewöhnliche Biographie in jedem Sinn: Durch die Haft wird Holz, noch nicht zwanzigjährig, zum Mitarbeiter der US-Militärverwaltung und kann dem späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss eine Presselizenz verweigern, weil der 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte. In den Gesprächen über die Studienzeit gibt es nicht nur interessante Einblicke in den Bildungsgang eines Studenten, der über Bollnow und Schlechta zu Bloch gekommen ist, wir erfahren auch von dem Kuriosum, dass Holz gleich in zwei deutschen Staaten politische Probleme mit dem Promotionsverfahren bekam: In Mainz lehnt man ihn ab, weil er Kommunist ist, und in Leipzig verzögert sich der Abschluss um mehr als ein Jahrzehnt, weil er als Bloch-Schüler im Zusammenhang mit der Ungarnkrise 1956 in den »Verdacht« gerät, »ein Abweichler zu sein«.

Ein deutsches Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Holz erzählt von seiner Arbeit als Journalist in den 50er und 60er Jahren, mitten im Kalten Krieg, mit KPD-Verbot, Wiederbewaffnung und Notstandsgesetzen. Durch all die hochinteressanten Details, die nur gelebte Zeitgenossenschaft uns nahebringen kann, wird der politische und historische Hintergrund lebendig sichtbar, vor dem die Philosophie von Hans Heinz Holz entsteht und sich entwickelt.

Das macht den Unterschied aus zu den Vorlesungen, die Holz als intellektuelle Autobiographie an der Universität Girona gehalten hat (sie sind 2015 unter dem Titel »Freiheit und Vernunft« im Aisthesis-Verlag erschienen). In den Vorlesungen werden von Holz die Elemente des Denkens in ihrer historisch-genetischen Entwicklung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rekonstruiert, während die »letzten Gespräche« in locker unsystematischer Form einfach authentisch von zeitgeschichtlicher Erfahrung berichten, wobei besonders die politischen Erfahrungen stärker in den Vordergrund treten. Zu den Gesprächen, in denen Holz von den großen Lebensthemen spricht (der Geschichte und Systematik der Dialektik, der Ästhetik und Kunstkritik sowie der politischen Arbeit), können die Vorlesungen in Girona mit Gewinn ergänzend hinzugezogen werden.

Aber auch im akademischen Bereich bieten die Gespräche zusätzlich Abseitiges, das dennoch von großem Interesse ist: die abenteuerliche Rebellion der Studentenbewegung von einem Marxisten interpretiert, der Berufungskampf in Marburg und die philosophische Erntezeit in Groningen, all das bringt Facetten von Holz ans Licht, die bisher so nicht bekannt waren. Die Erfahrung des Untergangs der sozialistischen Welt wird mit programmatischer Parteiarbeit in der DKP der 90er Jahre beantwortet: Da schließt sich der Kreis zur frühen politischen Erfahrung in der Erneuerung der Einsicht eines Leninisten, dass die Praxis der Befreiung der Theorie bedarf.

Wir müssen den Herausgebern Martin Küpper, Vincent Malmede und Johannes Oehme für dieses außerordentliche Zeitdokument danken. Unweigerlich denkt man an »Gelebtes Denken«, die autobiographischen Gespräche, die Georg Lukács noch kurz vor seinem Tod geführt hat. Beide zusammen erzählen ein Jahrhundert marxistischen Denkens und Handelns (Lukács die erste Hälfte, Holz die zweite). Es liegen hier Erfahrungen ausgebreitet da, auf die eine Erneuerung des Marxismus im 21. Jahrhundert nicht verzichten kann.

Hans Heinz Holz: Die Sinnlichkeit der Vernunft. Letzte Gespräche. Das Neue Berlin, 336 S., geb., 20 €. Jörg Zimmer, 1964 in Münster geboren, ist Professor an der Universität Girona in Spanien und lehrt dort Ästhetik und klassische deutsche Philosophie. Zudem ist er Vorstandsmitglied der »Internationalen Gesellschaft Hegel-Marx für dialektisches Denken«.

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