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Gesundheit bleibt auf der Strecke

Runder Tisch zur Versorgung obdachloser Menschen fordert Politik zum Handeln auf

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 3 Min.

»Benötigt wird ein gut ausgestattetes niedrigschwelliges medizinisches und zahnmedizinisches Versorgungssystem«, sagt Kai-Gerrit Venske vom Berliner Caritasverband. Er ist einer der beiden Sprecher des Runden Tisches zur medizinischen und zahnmedizinischen Versorgung obdachloser Menschen. Dieser hatte sich 2014 aus Einrichtungen gegründet, die in der ärztlichen Versorgung tätig sind. Trotz eines verhältnismäßig gut aufgestellten Systems für Obdachlose reiche die Versorgung hinten und vorne nicht, sagt Venske. Deshalb sei der Tisch durch die Initiative der Caritas und des Sozialträgers GEBEWO ins Leben gerufen worden.

Grund für die mangelnde Versorgung sei unter anderem die Osterweiterung der Europäischen Union, durch die viele neue EU-BürgerInnen nach Berlin gekommen seien. Auch die Entwicklungen des Wohnungsmarktes und ein allgemeiner Anstieg der Obdachlosenzahlen hätten zu einer Verschärfung der Situation geführt. Der Runde Tisch schätzt die Anzahl der Obdachlosen Ende 2016 auf 4000 bis 6000 Menschen. Venske erklärt, warum vor allem die EU-Binnenmigration ein Problem der medizinischen Versorgung darstellt: Es gebe zwar das Integrierte Sozialprogramm (ISP) als Hilfsnetz durch die Landesförderung, allerdings dürften durch sie finanzierte Einrichtungen nur Menschen mit versicherungsrechtlichen Ansprüchen behandeln, wodurch EU-MigrantInnen oft ausgeschlossen würden. Diese und andere Menschen ohne Anspruch auf Krankenversicherung könnten nur durch spendenmittelfinanzierte Einrichtungen behandelt werden, die zum Großteil ehrenamtlich arbeiten. Der Runde Tisch geht davon aus, dass etwa zwei Drittel der Behandlungsfälle außerhalb der Förderlogik des Berliner Senats stattfinden.

Gesundheitsbericht 2016
  • Zehn medizinische Versorgungseinrichtungen haben für den Bericht Daten zu den PatientInnen und Konsultationen erhoben. Sechs davon sind Arztpraxen, vier sind »aufsuchende« Einrichtungen wie Arztmobile.
  • 6634 PatientInnen wurden behandelt, die meisten davon in den Praxen. Es fanden 26.857 Konsultationen statt, also durchschnittlich etwa vier pro PatientIn.
  • In acht Einrichtungen wurden Daten zur Staatsangehörigkeit erhoben. Fast die Hälfte der dort behandelten 5000 PatientInnen kommt aus EU-Ländern, ein Viertel kommt aus Deutschland und ein weiteres Viertel aus Drittstaaten.
  • Bei 33 bis 50 Prozent der PatientInnen wurden psychische Erkrankungen diagnostiziert, oft aber nur im Rahmen einer Nebendiagnose. loz

Um auf die Situation aufmerksam zu machen, haben die Einrichtungen im Jahr 2016 zum ersten Mal Daten zur medizinischen Versorgung von Obdachlosen erhoben, die nun in einem Gesundheitsbericht vorliegen. »Der Bericht ist dazu gedacht, der Politik Beine zu machen und dafür zu sorgen, dass sich hier endlich etwas ändert«, sagt Venske. »Der Senat muss sich seiner Mitverantwortung an der Problematik bewusst werden.« In den Bericht seien zwar nicht ausschließlich Daten von Obdachlosen geflossen, da einige Praxen sich an alle Menschen ohne Versicherungsschutz richten. Trotzdem spiegelten die gesammelten Daten die Lage von Obdachlosen wider. Auch würden in den Einrichtungen nur wenige illegalisierte Menschen behandelt, da diese durch andere Hilfsstrukturen wie das Medibüro Berlin unterstützt werden. Dieses sei inzwischen auch Teil des Runden Tisches, habe aber noch keine Daten für den Bericht von 2016 erheben können.

Der Bericht zeigt die Wichtigkeit der bestehenden Einrichtungen für die Versorgung obdachloser Menschen. Das ergibt sich schon aus der hohen Zahl der Konsultationen. »Die meisten obdachlosen Menschen werden durch die Regelangebote der medizinischen Versorgung nicht oder nicht adäquat erfasst«, heißt es zur Begründung. Um die vorhandenen Angebote zu erhalten oder auch zu erweitern brauche es zum einen mehr Geldmittel und zum anderen mehr professionelle Beratung. Der Zugang zu landesgeförderten Versorgungseinrichtungen müsse zudem ausgeweitet werden. Das beträfe vor allem Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Die sei ohnehin das falsche Kriterium für die medizinische Versorgung von Menschen, findet Ekkehard Hayner von der GEBEWO. »Es wäre viel sinnvoller, nach medizinischen Gesichtspunkten zu differenzieren, als nach Staatsangehörigkeit, aber die Rahmenbedingungen sind da anders.« Diese seien durch die verschiedenen Finanzierungswege geprägt.

Teil des Berichts ist auch eine Hochrechnung der ehrenamtlich geleisteten Arbeitsstunden. Im März 2017 seien es 2300 gewesen. Das entspräche etwa 14 Vollzeitstellen, die durch 885 000 Euro im Jahr finanziert werden könnten. »885 000 Euro, die für eine Zuverlässigkeit der Angebote sorgen könnten und den Ehrenamtlichen ein entsprechendes Einkommen gewährleisten könnten«, so der Runde Tisch in seinem Fazit.

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