Richard Gutjahr und der »Shit-Tsunami«

Wie ein Journalist zufällig zwei Terroranschläge miterlebt und seitdem Verschwörungstheoretiker gegen ihn hetzen

  • Aleksandra Bakmaz
  • Lesedauer: 4 Min.

München. »Die Digitalisierung - kein Kurzstreckenlauf, vielmehr ein Marathon«, schreibt Internet-Experte Richard Gutjahr in seinem Blog. Einen anderen Marathon absolviert der Journalist seit mehr als 20 Monaten. Es ist ein Lauf gegen Verschwörungstheoretiker, gegen Hasskommentare und Videos im Netz. Hetze, die sich schon lange nicht mehr ausschließlich gegen ihn richtet, sondern auch seine Frau und Tochter betrifft.

Mit beiden macht er 2016 Urlaub in Frankreich, als sein Leben beginnt, eine unerwartete Wendung zu nehmen. Zufällig wird er am 14. Juli Zeuge des Terroranschlags in Nizza, bei dem 86 Menschen ihr Leben verlieren. Er filmt und berichtet als Journalist des Bayerischen Rundfunks (BR) für die ARD darüber. Nur acht Tage später wird Gutjahr wieder Zeuge eines dramatischen Verbrechens: dem Amoklauf am Olympia-Einkaufszentrum in seiner Heimatstadt München mit neun Toten. Er berichtet erneut.

An Zufälle wollen Verschwörungstheoretiker nicht glauben. Sie sprechen von »inszenierten Terroranschlägen« und »Indizienketten«, werfen dem Journalisten unter anderem vor, Mitarbeiter eines Geheimdienstes zu sein und von den beiden Attentaten gewusst zu haben. Sein Ziel? Nichts Geringeres als die Weltherrschaft.

Seitdem nehmen die Verleumdungen und Drohungen gegen Gutjahr und seine Familie kein Ende mehr. Vor knapp drei Monate wendet sich der 44-Jährige mit einem Beitrag in seinem Blog an die Öffentlichkeit. In »Unter Beschuss« beschreibt er seine Situation und den Kampf gegen den »Shit-Tsunami«. Gutjahr macht seine Geschichte publik.

Dabei habe er zunächst eine ganz andere Strategie gehabt, sagt er: »Bloß nicht weiter in Erscheinung treten, zurückziehen, einigeln, warten bis sich der Sturm legt«, erklärt Gutjahr. »In der Rückschau muss ich sagen, das war der größte Fehler, den ich gemacht habe.« Das habe die Sache nicht besser gemacht, sondern schlimmer.

»Wenn du Dinge unkommentiert stehen lässt, tauchen sie immer und immer wieder auf«, sagt der Journalist und meint damit vor allem die Videos auf Facebook und YouTube, die ihn und seine Familie etwa als Teil eines geheimen Netzwerks von Agenten darstellen. Was ihn besonders erschreckt hat? »Die Tatsache, dass viele der Hetzer unter ihrem echten Namen posten«, sagt Gutjahr. »Als sei es völlig okay, Menschen öffentlich auf Facebook in die Gaskammer zu wünschen.«

Gutjahr klagt vor Gericht. Das aber nur begrenzt Erfolg, wie der Blogger berichtet. Denn viele seiner »Peiniger« ignorierten die Urteile einfach. Auch das Anfang des Jahres in Kraft getreten Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das Hass im Netz unterbinden soll, helfe nur bedingt.

Gut daran sei, dass soziale Netzwerke wie Facebook nun auch juristische Anlaufstellen in Deutschland hätten. Sicher sei aber: »Einen Großteil der Problem hätten wir gar nicht, wenn wir schon vorhandene Gesetze im Netz anwenden würden.« Derzeit werde das nur teilweise gemacht. Der Staat lagere mit dem »Netz-DG« die Rechtsprechung quasi an Facebook und Co. aus. »Die Politik läuft der Gesellschaft seit der Digitalisierung nur noch hinterher«, sagt Gutjahr. Man müsse aber aufpassen, dass ein Schicksal wie seins und seiner Familie in fünf Jahren nicht zum Massenphänomen werde.

Gutjahr ist nicht der einzige, der mit Hassbotschaften im Internet zu kämpfen hat. Auch ZDF-Moderatorin Dunja Hayali (43) hat es immer wieder mit wüsten Beschimpfungen sogenannter Trolls bei Twitter oder Facebook zu tun. »Das Thema ist zu mir gekommen - und nicht ich zu dem Thema«, sagte sie kürzlich bei einem Vortrag zum Thema Hass im Netz an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Sie habe sich ein sehr dickes Fell zugelegt. »Doch sobald es gegen meine Familie geht, hört der Spaß auf.«

Und Gutjahr? Sein Kampf geht weiter. Trotz der Gefahr, dass er mit der Öffentlichkeit das befördern könnte, wogegen er eigentlich ankämpft. »Meine Situation war sowieso hoffnungslos«, so der Moderator. Das Ganze sei immer näher gekommen. »Viele Freunde kamen zu mir und meinten: Hey, ich habe da neulich was von dir im Internet gesehen. Ich glaub da ja nicht dran - aber.«

Doch trotz solcher Erfahrungen, zu einem Netz-Gegner hat sich der Journalist nicht entwickelt. »Wo Licht ist, da ist auch Schatten.« Die Technik sei immer nur so gut wie die Menschen, die sie benutzten. Er sei überzeugt, dass die Vorteile durch die Vernetzung größer seien als die Nachteile.

»Wir haben durch die schönen neuen Geräte Zugriff auf Informationen, wie sie vor 20 oder 25 Jahren vielleicht nur Staatschefs oder Universitäten hatten.« Das sei das Positive. Und das Negative? »Dass man so ein Instrument natürlich auch als Waffe verstehen muss.« Und den verantwortungsvollen Umgang damit hätten wir alle nicht beigebracht bekommen. dpa/nd

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