Massaker von Malatya erregt die Türkei

Resultat geschürter Überfremdungsangst

  • Jan Keetman, Istanbul
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Türkei steht unter dem Schock des Massakers von Malatya, das fünf Männer in der Niederlassung des christlichen Zirve-Verlages begingen.
Drei Mitarbeiter des Verlages, darunter der 46-jährigen Deutsche Tilman Ekkehart Geske, wurden, nachdem man sie »verhört« die Kehle durchschnitten worden. Die Opfer wiesen Verletzungen auf, die darauf hindeuten, dass sie vor ihrer Hinrichtung gefoltert wurden. Die von Nachbarn mit Hinweis auf einen »großen Streit« herbeigerufene Polizei ertappte die Täter auf frischer Tat. Nach Angaben des Gouverneurs von Malatya haben die mutmaßlichen Täter angegeben sie hätten die Tat wegen ihres »nationalen und religiösen Empfindens« begangen. In den Taschen der Täter wurden Briefe gefunden, in denen sie sich als »fünf Brüder« bezeichnen, die in den Tod gingen. Trotz dieser Märtyrerpose hatten sie jedoch ein Fluchtauto bereitgestellt. Eventuell hatten sie weitere Helfer. Die Polizei nahm noch fünf weitere Verdächtige fest. Die Verdächtigen wohnten zusammen in einem Wohnheim das einer islamischen Stiftung gehört. Sie bereiteten sich angeblich auf ein Universitätsstudium vor. Der als Anführer verdächtige und bei einem Fluchtversuch schwer verletzte 19-jährige Emre Günaydin musste das Wohnheim vor einigen Monaten verlassen, weil er einen Streit hatte. Abgesehen von dieser Episode war keiner der Verdächtigen vorher aufgefallen. Malatya war eine der Hochburgen der türkisch-kurdischen Hizbullah, die vor sieben Jahren nach Aufdeckung ihrer mit nicht mehr zu überbietender Grausamkeit begangenen Morde für Aufsehen sorgte. Gegner der Hizbullah und von ihr erpresste Geschäftsleute wurden so gefesselt, dass sie sich selbst erwürgen mussten. Bei Demonstrationen in Malatya konnte die Hizbullah bis zu 3000 Unterstützer aufbieten. In den letzten Jahren ist es jedoch ruhig um sie geworden. Ihr Anführer starb bei einem Feuergefecht mit der Polizei in Istanbul, und bei dieser Gelegenheit fiel den Sicherheitskräften auch das Archiv der Gruppe in die Hände. Bis auf einen spektakulären Anschlag auf den Polizeipräsidenten von Diyarbakir vor sechs Jahren ist die Hizbullah seither nicht mehr in Erscheinung getreten. Mehmet Farac, anerkannter Spezialist für die militanten islamistischen Gruppen in der Türkei und Autor zweier Bücher über die Hizbullah, glaubt nicht daran, dass diese hinter dem Massaker von Malatya steht. Er denkt eher an einen Zusammenhang mit der Ermordung des italienischen Priester Andrea Santoro vor einem Jahrs und des armenischen Journalisten Hrant Dink vor drei Monaten. Wie bei dem Massaker in Malatya waren es auch auffallend junge Täter, die die beiden anderen Morde begangen hatten. Zweifellos ist die Tat vor dem Hintergrund einer geradezu hysterischen Überfremdungsangst zu sehen, die in der Türkei seit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU geschürt wird. Ein Streifzug durch die Kommentare von Internetnutzern zu dem Massaker förderte neben viel Betroffenheit auch reichlich Lob für die Täter zu Tage. Da ist von einer schleichenden Christianisierung Anatoliens die Rede, von einem schwachen türkischen Staat, der von Marionetten der EU und der USA geleitet wird, vom Versuch, der Türkei durch Abspaltung eines kurdischen Staates ihre Rohstoffe zu rauben. Doch nicht alle denken so. Wenige Stunden nach dem Massaker demonstrierten in Istanbul ungefähr tausend Menschen unter der in der Türkei provokanten Parole »Wir sind alle Christen«.

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