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Niederlande: Frustration in Dauerschleife
In den Niederlanden wird ein neues Parlament gewählt – zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren
Stürmische Zeiten in den Niederlanden. Mit mehr als 115 Kilometern pro Stunde fegt Herbststurm Benjamin orkanartig über das Land. In den Häusern tobt die Politik. Wieder einmal. In den Niederlanden stehen Neuwahlen an – zum zweiten Mal binnen zwei Jahren. Für viele Menschen im Land fühlt sich das an wie Dauerwindstärke 9: laut, wechselhaft und ohne klare Richtung. Ein Gefühl, das sich auch in den Umfragen niederschlägt.
Mehr als die Hälfte der Niederländer*innen (59 Prozent) ist der Meinung, dass es gerade falsch läuft im Land. Das zeigt ein aktueller Bericht des Sociaal en Cultureel Planbureau (SCP). Mit der abermaligen Neuwahl nach dem Fall der Koalition des derzeitigen Nato-Generalsekretärs Mark Rutte über Asylpolitik im Jahr 2023 ist das Vertrauen in die Politik so niedrig wie noch nie. Sechs von zehn Niederländer*innen geben Den Haag gemäß der SCP-Erhebung ein Ungenügend.
Viele Wähler sind noch unentschlossen
Er sehe vor allem Ratlosigkeit in der Regierung, sagt Wähler Julian Adelaar. »Die Politik scheint uns vor allem mit kurzfristigen Lösungen und knappen Einzeilern überzeugen zu wollen. Es muss immer hart sein, es gibt wenig Raum für Zugeständnisse.« Es gehe mehr um die Wirksamkeit in der Öffentlichkeit als um echte Inhalte.
»Die Politik scheint uns vor allem mit kurzfristigen Lösungen und knappen Einzeilern überzeugen zu wollen. Es muss immer hart sein, es gibt wenig Raum für Zugeständnisse.«
Julian Adelaar Wähler
Wie die Einzeiler auf die Menschen in den Niederlanden wirken, scheint auch niemand so richtig zu wissen, denn einer Umfrage des Fernsehsenders RTL zufolge waren zwei Wochen vor der Wahl noch knapp zwei Drittel der Wahlberechtigten (64 Prozent) unschlüssig, wem sie ihre Stimme geben wollen. Damit liegt die Zahl der Unentschlossenen noch höher als bei den Neuwahlen 2023 mit 59 Prozent. Möglicherweise auch, weil sich letztlich dasselbe Muster zeigt, egal, wer gerade an der Macht ist.
Politik in der Endlosschleife gefangen
Seit Jahren steckt die niederländische Politik in einer Art Endlosschleife: Wahlen, schwierige Koalitionsverhandlungen, kurze Regierungszeiten – und dann der nächste Bruch.
Es sind gerade Themen wie soziale Ungerechtigkeit, bezahlbarer Wohnraum und Migration, die die niederländische Politik dominieren, aber auch internationale Konflikte wie der Krieg in Gaza. Der Ansatz »Niederlande first« des rechtspopulistischen PVV-Chefs Geert Wilders und die Law-and-Order-Politik der rechtsliberalen VVD-Leiterin Dilan Yeşilgöz treiben die Gesellschaft immer weiter auseinander. Im September kam es in Den Haag zu Ausschreitungen von Rechtsextremen bei einer Demonstration gegen Migration.
Menschen haben Vetrauen in die Politik verloren
Wählerin Souad El beschreibt, wie sich dieses Auseinanderdriften im Alltag bemerkbar macht: »Das Vertrauen in die Politik hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Die Kluft zwischen Politik und den Bürgerinnen und Bürgern ist dadurch nur noch größer geworden.« Auch werden Rassismus und Ungleichheit immer weiter normalisiert, sodass sie sich ernsthaft fragen müsse, in welche Richtung die Niederlande sich entwickeln.
Es sei gerade dieses gesellschaftlich vorherrschende Gefühl von Frustration, Politikverdrossenheit und Machtlosigkeit bei Wähler*innen, das die Lage noch mehr zuspitze, glaubt Josje den Ridder, Forscherin beim SCP. Sie sieht in dieser Entwicklung eine gefährliche Dynamik:
»Die Menschen haben das Gefühl, dass sie selbst wenig gegen die negativen Folgen innen- und außenpolitischer Entwicklungen ausrichten können. Ihrer Meinung nach könnte die Regierung diese Probleme zwar angehen, tut dies aber nicht oder geht falsch vor. Die Folge ist, dass manche Menschen sich zurückziehen: Sie gehen nicht mehr zur Wahl oder vermeiden Gespräche mit Andersdenkenden.«
Trotz Frust bleibt der Glaube an politischer Teilhabe
Aber es gäbe auch eine entgegengesetzte Dynamik, erkennt sie. Ein anderer Teil der Bevölkerung sieht die derzeitige Lage als Antrieb, politisch aktiv zu werden, sei es durch Wahlbeteiligung oder Demonstrationen.
So auch Souad El, die angibt, trotz des schwindenden Vertrauens in die Politik nach wie vor wählen zu gehen. Sie glaubt, dass politische Teilhabe der richtige Weg ist, um Veränderungen auf den Weg zu bringen. In der Hoffnung, dass die neue Regierung dann endlich Themen wie gesellschaftliche Zusammenführung und Gleichheit angeht und Lösungen liefert.
Herbststurm Benjamin hat sich mittlerweile gelegt, politisch stehen die Zeichen weiter auf Sturm. Wann und ob überhaupt in naher Zukunft Ruhe einkehren wird, ist noch nicht abzusehen.
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