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Verfassungsbeschwerde: Abschiebehaft nur mit Richter-Entscheid
Das höchste deutsche Gericht rügt Festnahmen vor richterlicher Anordnung von Abschiebehaft
Immerhin: Menschen dürfen nicht einfach festgenommen und eingesperrt werden, wenn demnächst für sie Abschiebehaft angeordnet werden soll. Das Bundesverfassungsgericht hat entsprechenden Beschwerden von drei Betroffenen stattgegeben. Es betont in am Dienstag veröffentlichten Entscheidungen zu drei Fällen, dass für geplante Ingewahrsamnahmen der Ausländerbehörde grundsätzlich vorher eine richterliche Haftanordnung notwendig sei.
Die örtlichen Behörden hatten die Beschwerdeführenden festnehmen lassen, obwohl die jeweils zuständigen Amtsgerichte noch keine Abschiebungshaft angeordnet hatten. Die Betroffenen wollten zunächst von Amts- und Landgerichten feststellen lassen, dass ihre Ingewahrsamnahmen rechtswidrig waren. Dort hatten sie keinen Erfolg. Nun aber gab das oberste deutsche Gericht ihnen recht.
Die Kläger seien in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt worden, entschied die zuständige Kammer in Karlsruhe. Teils habe es schon an einer gesetzlichen Grundlage für die Festnahmen gefehlt. Eine im Anschluss nachgereichte richterliche Entscheidung sei nur ausnahmsweise zulässig, wenn das Ziel der Freiheitsentziehung sonst nicht erreichbar wäre. In den geprüften Fällen sei eine frühere Gerichtsentscheidung aber möglich gewesen.
Die Kläger seien in ihrem Grundrecht auf Freiheit der Person verletzt worden, entschied Karlsruhe. Teils habe es schon an einer gesetzlichen Grundlage für die Festnahmen gefehlt.
Die Richter*innen erklärten, Betroffene könnten auch nachträglich ein schutzwürdiges Interesse an der Feststellung haben, dass die Abschiebehaft rechtswidrig war. Denn Personen kämen nur in Abschiebehaft, wenn erwartet wird, dass sie untertauchen oder die Abschiebung erschweren wollen. Die Haftanordnung könne also ihrem Ansehen schaden.
In den Fällen einer Frau und eines Mannes aus Eritrea wurden deren Grundrechte auch deshalb verletzt, weil es für ihre Festnahmen im November 2017 beziehungsweise April 2019 noch kein deutsches Gesetz als Grundlage gab. Eine entsprechende Regelung für solche Dublin-Fälle, in denen ein anderer EU-Staat für das Asylverfahren zuständig ist, trat erst im August 2019 in Kraft. Die Asylanträge der Eritreer*innen in Deutschland waren abgelehnt worden, weil nach der Dublin-Richtlinie der EU Italien für ihre Bearbeitung zuständig war.
Die dritte Beschwerdeführerin, eine Slowakin, wurde im August 2020 festgenommen und Anfang September 2020 in ihr Heimatland abgeschoben, weil sie mehrmals straffällig geworden war. Deshalb war ihr das innerhalb der EU geltende Freizügigkeitsrecht aberkannt worden.
Die Bundesregierung will Abschiebungen derweil weiter erleichtern und forcieren. Durch die Abschaffung des Rechtsbeistands in Abschiebehaft und andere Maßnahmen soll auch die Inhaftierung von Ausreisepflichtigen erleichtert werden. Der politische Druck, immer mehr Menschen abzuschieben, führt derweil teils auch zu einer Überlastung des Personals von Abschiebegefängnissen, wie der Fall der Justizvollzugsanstalt (JVA) im nordrhein-westfälischen Büren zeigt. Sie ist zu einem großen Teil ausgelastet, wie Mitglieder des Integrationsausschusses des NRW-Landtags vor Ort erfahren haben.
Die Leitung der Haftanstalt stoße »an die Grenzen des Machbaren«, schreiben die Abgeordneten in einem Bericht dazu. Derzeit würden sogar Beamte im Ruhestand vorübergehend aushelfen. Möglich mache dies eine Novelle des Abschiebungshaftvollzugsgesetzes. Allerdings fänden sich nur wenige Pensionäre, die dazu bereit seien. Das von der Grünen-Politikerin Josefine Paul geführte NRW-Ministerium für Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration berichtete vergangene Woche von monatlich bis zu 148 in Büren untergebrachten Ausreisepflichtigen. Im September gab es sogar 160 Aufnahmen, so viele, wie die JVA Unterbringungsplätze hat.
Das Projekt Abschiebungsreporting NRW, eine unabhängige Beobachtungs- und Dokumentationsstelle, kritisiert die Entwicklung. »Während in der Statistik die Zahl der Menschen ohne Aufenthaltsstatus in Nordrhein-Westfalen seit Ende 2022 um 21 000 gesunken ist, werden immer mehr von ihnen in Büren inhaftiert und ein Abschiebedruck inszeniert«, sagt Sebastian Rose von Abschiebungsreporting gegenüber »nd«. Dazu komme, dass in Büren »auch schwerstkranke Menschen« inhaftiert würden. »Zuletzt erreichte uns ein Bericht über eine Person, die direkt nach einer Herz-Operation inhaftiert worden ist«, so Rose. Und die Landtagsausschussmitglieder berichten, dass sogar ein Dialysepatient in Abschiebehaft verbracht werden sollte.
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Rose kritisiert auch die Amtsgerichte: »Sie winken Haftanträge der Ausländerbehörden viel zu oft einfach durch.« So würden kranke Menschen »gesund attestiert und als haftfähig eingestuft«. Das führe zu Stress und Spannungen unter den Insassen, aber auch unter den Mitarbeitenden, so die Delegation des Integrationsausschusses. So müssten Bedienstete mit Inhaftierten medizinische Termine außerhalb des Gefängnisses wahrnehmen.
Rose findet es unverständlich, dass Menschen oft über lange Zeit inhaftiert werden, obwohl ihre Abschiebung noch gar nicht möglich sei. Auch Benjamin Rauer, Sprecher für Flucht der Grünen-Fraktion im Düsseldorfer Landtag, sieht die Entwicklung kritisch. »Abschiebehaft bedeutet, Menschen unter strafhaftähnlichen Bedingungen einzusperren, und zwar nicht, weil sie eine Straftat begangen haben, sondern einzig und allein, weil sie keinen gültigen Aufenthaltstitel besitzen«, betonte er gegenüber »nd«.
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