- Kommentare
- Avenidas-Gedicht
Ein lyrisches Lehrstück
Martin Hatzius staunt über die Folgen einer Gedichtentfernung
Die Lyrik erblüht in Nischen, bemerkt allenfalls von verstreuten Bewunderern. Normalerweise. Dass ein Gedicht derart viel Aufmerksamkeit auf sich zieht wie jüngst Eugen Gomringers Konstellation »avenidas«, ein Gründungsdokument der Konkreten Poesie, dürfte kaum je vorgekommen sein. Seit Studierende der Berliner Hochschule, an deren Fassade es derzeit noch prangt, in jenem Gedicht einen sexistischen Impetus ausgemacht und schließlich mehrheitlich beschlossen hatten, es entfernen zu lassen, ist über keinen poetischen Text häufiger geredet, geschrieben und gestritten worden. Kein Gedicht ist in den Medien so häufig zitiert (und zuweilen auch instrumentalisiert) worden wie dieses.
Gomringers Tochter, Dichterin - und Feministin -, ließ es auf transparente Folien drucken und streute sie quer übers Land, wo sie nun an vielen Flächen kleben. In einem soeben erschienen Buch über Eugen Gomringers lyrische Verdienste steht »avenidas« im Zentrum der Betrachtung. Und eine Wohnungsgenossenschaft gab in dieser Woche bekannt, das Poem auf einer Hausfassade im selben Stadtbezirk anzubringen, in dem es anderswo entfernt wird. Der Vorwurf der Zensur, mit dem sich die Initiatorinnen der Übertünchung konfrontiert sahen, wendet sich so in sein Gegenteil: Allein der Tilgung ist die enorme Verbreitung zu danken.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Linken, unabhängigen Journalismus stärken!
Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.
Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.