Klangkreator von Kopf bis Zeh

Zum Tod des Komponisten, Pianisten und Improvisators Hermann Keller

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 4 Min.

Er konnte herzlich lächeln und fröhlich die Augen rollen und erzählen wie einer, der immer Neuigkeiten parat hat, dem noch die kleinste Kleinigkeit eine freundliche Geste wert war. Hermann Keller war beliebt in der Szene. Seine Auftritte als Pianist stellten seine ganze Musikalität und Meisterschaft heraus. Er bildete frühzeitig Improvisationsensembles und musizierte häufig in der Reihe »Jazz in der Kammer« des Deutschen Theaters Berlin und in der »Großen Melodie« im Friedrichstadtpalast.

In seinem Komponistenleben schlugen viele Dinge zu Buche. Kaum eine Gattung ließ er aus. Jedes einzelne Werk, das er schrieb, bedurfte der Reife. Jazz spielte er am Piano erst, nachdem er sich zwanzig Jahre mit dessen Spielarten beschäftigt hatte. Die sogenannte Weltmusik ignorierte er. Solche war für ihn der reine Kommerz. Zu seinen Domänen gehörte auch die Improvisationsmusik. Und als Meister der Musik für präpariertes Piano tat er sich hervor und spielte sie selbst. Vor 1989 schrieb Keller auch Orchestermusiken, groß besetzte Konzerte und so fort. Konträre, die Gemüter erhitzende Aufnahme fand im Neuen Gewandhaus Leipzig 1983 sein 1. Klavierkonzert, ein ungeheuerlicher Wurf. Die Aufführung mit ihm als Solisten, ein faktisch deutsch-deutsches Projekt, besorgte die Junge Deutsche Philharmonie unter Heinz Holliger.

Hermann Keller wurde 1945 in Zeitz geboren. Seine Kindheit sei nicht leicht gewesen. Armut und Nötigungen etwa in der Kirche hätten bei ihm böse Träume verursacht. Es gibt eine Komposition darüber: »Was hat man dir, du armes Kind, getan« für Sprecher und Klavier (2012). Er hat sie selbst vorgeführt. Rechtzeitig kam er nach Berlin, um das musikalische Handwerk zu erlernen, und arbeitete seit 1980 als freischaffender Komponist, Pianist und Improvisator. Für ihn, Klangkreator von Kopf bis Zeh, gab es kein Ausruhen, keine Abkehr. An jedem Tag stand ihm Musik nahe. Denen, die ihn kannten, entging es nicht: In Herz und Kopf klang es, wenn er lief, atmete, aß, in den Himmel schaute, nachdachte, sprach, sah, spielte - etwa mit Gedanken über die Zukunft. Ein Musiker aus Passion. Das schlug klanglich ungeheuer durch.

Und es kamen die anderen Tage und Jahre, wo Schweigen war, nachts und am Tag. Schweigen und für sich allein musizieren in seiner stets unaufgeräumten, den Blick fesselnden Wohnung in der Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg. Zwei Flügel stehen darin, etliche Musikinstrumente, Malereien und Zeichnungen von Freunden, ringsum Regale mit Noten, Büchern, Platten, Tonbändern. Die Sachen werden bald nicht mehr dort stehen. Ohne das Leben ihres Eigentümers taugen sie auch nichts mehr oder haben nur noch baren Wert. Der Entsorgungstrupp kostet. Schrecklich der Gedanke. Schweigen, was für ein unmenschliches Wort. Katzen, wenn ihnen nichts Schlimmes geschieht, schweigen ihr ganzes Lebens über.

Die Sprache verschlug es Hermann Keller, als der Kapitalismus sein Land überrollte und auch ihn zu treffen schien. Der Schock saß tief. Außerhalb der kruden Erscheinungen stehend, schien sein Geist auf Dächern zu wandeln, Gefahr laufend, abzustürzen in eine heillose Zukunft. Über Jahre schrieb er keine Note mehr, entzog sich jeglicher Auftritte. Umso mehr entwickelte er danach eine ungebremste Produktivität.

Fortan arbeitete Hermann Keller von Werk zu Werk mit Elementen und Formen der »musique engageé«. Sie ist dem »Mainstream« so fremd wie dem Vogel die Fessel. Seine Musik attackiert, gibt zu denken, führt kritische Gedanken weiter und spitzt zu.

Es entstand »Die Öffnung der Berliner Mauer aus der Sicht des Jahres 2089« für Sprecher, Blechbläserensemble und Schlagzeug. Eine bös-heitere Utopia mit Kunstfiguren wie David Rabind Ranath Matschke, der über die Zeit vor 100 Jahren schreiben soll und nichts findet. Generell bedeutsam war für Keller die Sprachlichkeit der Musik, das Paradoxon, dass auch absolute, rein instrumentale Klänge sprechende Klänge sein können.

Szenische und Text-Werke aus seiner Feder stellen Grundfragen, ökologische, politische, menschliche. Stücke wie »Der Wegwerfmensch« für Ensemble mit einem sprechenden Pianisten auf Texte von Schiller, Volker Braun, Rainer Kirsch und andere oder »Fortschritt vom Menschen der Mensch«, Konzert für Klavier und Sprache nach eigenem Text, beklagen nichts, sie klagen an.

Am 26. März ist der 73-jährige Künstler in Berlin gestorben.

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