Der See mit zwei langen Enden

Seit das Kind auf einer Landkarte den Bodensee sah, hatte es einen Traum.

  • Dagmar Schwaab
  • Lesedauer: 3 Min.

Mein Vater war Geografielehrer und zeitweilig Schulleiter. Als ich fünf Jahre alt war, durfte ich ihn einmal in seinem Direktorzimmer besuchen. Dort beeindruckte mich am stärksten die große Wandkarte von Deutschland. Allein - ich konnte sie noch nicht deuten und fragte nach. Mein Vater erklärte mir: »So wird unser Land abgebildet. Die Ebenen mit den vielen Wiesen sind grün, die Gebirge mit ihren Felsen braun, sehr hohe Gipfel, wo ständig Schnee liegt, weiß und das Wasser blau eingezeichnet. Dazu gehören das große Meer, die langen Flüsse und die Seen. Sogar ihre Form wird dargestellt. Siehst du, hier ist ein Kreisrunder, dort ein langer.« Ich war ganz bei der Sache. »Und hier unten ist einer mit zwei langen Enden«, entdeckte ich. »Das ist der Bodensee«, ergänzte mein Vater. Ich habe mir alles genau gemerkt.

Kurze Zeit später war meine Mutter einmal nicht zu Hause, weshalb ich bei Vater im Arbeitszimmer spielen musste. Es klingelte, und er verließ kurzzeitig den Raum. Neugierig, wie Kinder sind, guckte ich auf seinen Schreibtisch. Dort war ein großes Buch aufgeschlagen mit einer Abbildung, die über zwei Seiten reichte. Jetzt wusste ich, was da zu sehen war: ein Land mit hohen Bergen, denn es herrschte die Farbe braun vor. Oft ragten da weiße Gipfel heraus. Aber die größte Überraschung befand sich rechts oben auf der Karte. Das war der See mit den zwei langen Enden - der Bodensee. Aber wieso hatte er diesen ganz anderen Platz? Da kam mein Vater wieder herein. Er ertappte mich bei meinem Studium und erklärte mir: »Das ist unser südliches Nachbarland, die Schweiz. Sie hat auch einen Anteil am Ufer des Bodensees. Morgen spreche ich mit meinen Schülern darüber. Du wirst das alles später erfahren, wenn du in die Schule gehst.«

Welch eine Entdeckung! Der See wurde ja immer interessanter. Da nahm ich mir vor, selbst alles genau in Augenschein zu nehmen, wenn ich erwachsen sein würde. Von nun an hatte ich einen Traum und ein großes Geheimnis, das ich niemandem verraten würde. Es war gar nicht so leicht, es zu hüten, denn es gibt im Leben bekanntlich auch Hindernisse. Wir schrieben damals das Jahr 1929. Ich musste siebzig Jahre lang warten, bis sich mein Traum erfüllte. Dazwischen lagen der Faschismus, der Zweite Weltkrieg, die schwierige Nachkriegszeit, der Kalte Krieg und die Teilung Deutschlands mit dem strengen Grenzregime.

Noch vor dem Ende des Jahrhunderts wurde der westliche Teil Deutschlands für uns wieder zugänglich, und ich nutzte eine Reise ins Allgäu für einen Tagesauflug nach Lindau. Mehr als die schöne Stadt interessierte mich der Bodensee. Ich suchte den Hafen und hatte Glück. Bald kam ein österreichisches Linienschiff, auf dem ich bis Wasserburg mitfahren konnte. Das deutsche und das österreichische Ufer zeigten sich im schönsten Frühlingsgrün. Leider lag der Zufluss des Rheins im Dunst. Das kleine Wasserburg hatte allerlei zu bieten, wie die Hochwassermarken und die Jahreszahlen der strengen Fröste, die den See zufrieren ließen, die Kirche oder den Malerwinkel mit der schönen Aussicht auf Lindau. Dorthin wanderte ich am Ufer entlang über Streuobstwiesen nach Lindau. Dort blieb noch Zeit für einen Stadtrundgang.

Der erlebnisreiche Tag erfüllte mir meinen Kindertraum. Der See mit den zwei langen Enden war nicht mehr nur ein Vermerk auf der Landkarte.

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