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Das Fahrrad von Deng Xiaoping

In Frankreichs Mitte stößt Barbara Thalheim auf die erstaunliche Geschichte der Chinesen von Montargis

  • Barbara Thalheim
  • Lesedauer: 4 Min.

Kurz vor meiner Weiterreise nach Noisy-le-Grand fällt mir auf: Da steht ein Bronze-Chinese in Lebensgröße auf der Place du Patis. Eine Skulptur des chinesischen Bildhauers Li Xiao Chao, wie sich herausstellt, der Stadt Montargis gestiftet. Ich frage eine mit Einkaufstaschen bepackte Frau, wer das sei. Sie zuckt die Schultern, sagt im Weitergehen: »Vielleicht ein früherer Bürgermeister, keine Ahnung.« Da geht sie hin, die wahrscheinlich jeden Tag hier vorbeikommt, und interessiert sich nicht für die - noch dazu handwerklich exzellent gemachte - Skulptur.

Mich interessiert sofort, warum in der kleinen Stadt Montargis im Loiret - in Frankreichs Mitte und weit entfernt vom Reich der Mitte - seit 2014 ein bronzener Chinese steht. Bald weiß ich: Nicht nur in China, in ganz Asien kennt jedes Kind die Geschichte der Chinesen von Montargis. »Sie steht bei uns in den Schulbüchern«, sagt mir die junge Chinesin, die die Tür des versteckt gelegenen Museums der »Chinesen von Montargis« vor und hinter jedem Besucher auf- und wieder zuschließt. Denn in Montargis, erklärt sie mir, habe die Wiege der Kommunistischen Partei Chinas gestanden. Die schöne Frau ist höchstens Anfang zwanzig, und ich überlege, ob ich hier komplett hopsgenommen werde.

Aber die Geschichte stimmt und geht so: Zwischen 1902 und 1927 kamen etwa 4000 junge Chinesen, zumeist Intellektuelle aus bürgerlichem Milieu, nach Frankreich. 400 von ihnen waren an der Gründung des »Mouvement Travail-Études« (Arbeits- und Studienbewegung) beteiligt, das der chinesische Agrarökonom, Biologe und erste chinesische Austauschstudent in Frankreich, Li Sheizeng, als »Ecole Pratique d’Agriculture du Chesnoy« (Ausbildungsstätte für allgemeine und technologische Landwirtschaft in und um Montargis) ins Leben rief.

Bis Mitte der 1920er Jahre entstand um das Mouvement herum eine bedeutende chinesische Gemeinschaft in Montargis. Der damalige Bürgermeister und sein kompletter Stadtrat waren begeisterte Förderer der chinesischen Commune und unterstützten die jungen Intellektuellen mit Studien- und Wohngebäuden. Die studierten die französische Sprache und ein damals absolut futuristisches Fach: Agrarwissenschaften. Außerdem arbeiteten sie in der nahe gelegenen Kautschukfabrik.

Unter den Studierenden waren es vor allem Deng Xiaoping (er führte die Volksrepublik China von 1979 bis 1997) und der weniger bekannte Intellektuelle Ts’ai He-sen (nach seiner Rückkehr Mitglied diverser Zentralkomitees und Politbüros), die regelmäßigen Briefkontakt zu Mao Tse Tung hielten. Bezogen auf ihre Ausführungen zur Chinesischen Revolution und zur Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (1921), schrieb Mao: »Es gibt nicht ein Wort, mit dem ich nicht übereinstimme.«

Viele spätere Spitzenpolitiker und Funktionäre der KP Chinas rekrutierten sich aus der Gruppe der »Chinesen von Montargis.« Im Museum steht beispielsweise das Fahrrad von Deng Xiaoping, ein vorsintflutliches Gefährt, das ihn zur Schicht in die Kautschukfabrik fuhr. Fotos fast aller französischen Staatspräsidenten beim Händeschütteln und Umarmen chinesischer Politiker sind die einzigen Farbexponate der aufwendig gestalteten Ausstellung. Befremdlich für heutige Betrachter ist das quasi in die Haut getackerte Lächeln auf beiden Seiten. Wobei die greisen chinesischen Partei- und Staatsführer wohl in memoriam an ihre Jugend in Montargis so merkwürdig lächelten.

Auf den Feldern im Loiret blüht der Raps. Was hat sich Gott bei der Erschaffung dieses Gelbs gedacht? Van Goghs Gelb. In einem Brief an seinen Bruder beschrieb der Maler, wie er vorgeht, um genau diesen Gelbton zu mischen. In van Goghs Zeit wurde Raps zu Lampenöl verarbeitet. Heute haben wir die Wahl, sagt Laurent, der Landwirt, mein »Herbergsvater« hier in St. Germain des Prés bei Montargis: Biodiesel, Rohstoff für chemische Industrien, Speise- und Motorenöle. In jedem Fall ein gutes Geschäft. Ich frage ihn, warum er seine Ernte nicht ausschließlich zur Nahrungs-, statt zur Kraftstoffgewinnung verkaufe. Er lacht: »Ich verkaufe an den, der mir am meisten bietet, das ist doch logisch, machen doch alle so.« Huxleys Satz: »Man wird so genormt, dass man nichts anderes tun kann, als man tun soll«, fällt mir ein.

Laurent ist 63 und hat mit Abstand die größte Farm hier im Gâtinais. »Ich habe meine Felder bestellt«, sagt er. »Aber sieh dich doch um: immer mehr Brachen. Französische Zahnärzte und argentinische Anwaltskanzleien kaufen hier Land, weil Landbesitz heutzutage die beste Bank ist. Das macht mich fuchsteufelswild. Land kaufen, um es teurer zu verkaufen - das ist unmoralisch. Land besitzen, um ihm Erträge abzuringen, das entspricht meiner Moral.«

Ich verabschiede mich von Laurent und Brigitte. »Kommt mich besuchen«, sage ich nicht zum ersten Mal. Und weiß doch, sie werden mich nie besuchen in Berlin. Schöner als hier kann es nirgendwo sein, denken die beiden. Glaube ich.

Ich fahre die schmalen Straßen hinunter nach Amilly in Richtung Montargis zur Autobahn gen Norden, vorbei an kleinen Häusern, die Namen tragen, weil die kleinen Straßen hier zumeist keine haben. Ein Haus heißt »Die gut Platzierte« (Haus ist weiblich im Französischen), ein anderes »Großvater ohne Bart«, eine Pariser Familie mit vielen Kindern nennt ihr Haus: »Hier kommt nicht jeder rein.« Ich male mir aus, wie die Besitzer ihre Häuser tauften, und höre noch beim Abbiegen auf die Nationalstraße den Esel von Laurent schreien. Nach mir?

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