Zerrissene Heimaten

Deutsche Tanzkompanie Neustrelitz mit drei Uraufführungen

  • Karin Schmidt-Feister
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Vorabend des diesjährigen Internationalen Tag des Tanzes lud die Deutsche Tanzkompanie in ihrer Spielstätte Schauspielhaus Neubrandenburg zum bemerkenswerten dreiteiligen Tanzabend »Meine Heimat - Drei Choreografen - Drei Bekenntnisse«. Als Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter ist der Künstlerische Leiter Lars Scheibner zweisprachig aufgewachsen und verortet Heimat nicht ortsgenau.

Der Titel seiner Neukreation »*11:23« markiert die fiktive Geburtsstunde eines Menschen. Ein nackter Männerkörper senkt sich in das Dunkel des Bühnenraumes. Das Schnarren von Geigerzählern grundiert die Aktionen von acht schwarzen Gestalten, die den Mann mit grellen Taschenlampen abtasten. Der muskulöse Körper windet sich zu voller Größe auf einer Platte, wird gescannt, erinnert eckige klassische Posen, fällt, erhebt sich, die Schattenwesen belauern ihn. Péter Copeks intensive Körperlichkeit moduliert mit jeder Bewegung gegen den Tod an. Eine ›Skulptur‹, die langsam tastend an den Rändern einer treibenden Eisscholle driftet, mehrfach über wogende Wände balanciert, unter der Wucht der auf ihm stehenden Gruppe im wölfischen Schnauben zerdrückt wird. Sein Körper flirrt und wird zur Projektionsfläche. Der Druck der Gruppe ist so existenzbedrohend, dass sich flugs sein Ich auflöst, indem sich immer neue weiße Avatare vom realen Menschen abspalten. Der Opfertanz gewinnt durch die Sinnfälligkeit der interaktiven Körperprojektionen - besorgt von Marcus Doering - eine beklemmende Intensität, die den Verlust von Menschsein spürbar macht. Ultimativ wird der Mann zum Tragen der jedes Quäntchen Haut verhüllenden Ganzkörperkluft genötigt. Gesichtslos fahndet er als Teil der Gruppe mit grellen Lampen nach Lebendigen. Lars Scheibner gelingt mit »*11:23« eine zwischen Leben und Tod kraftvoll changierende Tanzdystopie.

Auch die Gruppenchoreografie »Perfect Tragic Place« der in Berlin lebenden Tänzerin und Choreografin Julia Maria Koch zielt auf einen labyrinthischen Ort voller Ängste, Schuld und Dunkelheit. Sie exponiert zunächst diagonal Sitzende, deren Bewegungsimpulse gleichgeschaltet zu Dominoeffekten führen. Die zwölf Akteure agieren reflexartig, trippeln in weißen Ringelsocken, bilden Pulks und große Flügel. Stilisierte Schläge oder ein plötzliches aggressives Anschreien stören den unheimlichen Gleichklang. Unheilvoll treten Einzelne auf die Rücken der Kriechenden, fallen Menschentürme ineinander zusammen, bilden sich Riesenarme oder krallen sich Hände unisono in die Luft. Frauen hängen über Männern, Paare wie Dubletten. Masse Mensch. Das Individuum hat kein Eigenleben. Doch die tänzerischen Codes, die Musikcollage und schwarze Kostümgestaltung bleiben bis in die finale Parzival-Apotheose vage.

Weitaus mehr choreografisch-inszenatorische Konkretheit gelingt dem in Amsterdam wirkenden Israeli Sagi Gross mit »One Charming Night«. Wie im Zoom eines Fernglases erscheint der Videomond mit Raketeneinschlägen über dem Horizont. Davor eine Gruppe junger Leute in angstvoll geduckten Bewegungssequenzen. Gedrosselte Power im Rückwärtsgang. Barfuß in bunten Röcken oder Shorts geben sie einander Bewegungsimpulse. Selbstaktivierung in Soli, Trios, Gruppen. Ins Artilleriefeuer mischen sich märchenhafte Stimmen von Henry Purcell, und ein Paar beginnt zu schweben. Deren Kraft überträgt sich auf jeden, sie wagen raumgreifend größere Bewegungen mit langen Armen. Philipp Repmann und Péter Copek finden sich in der Feuerpause (ohne Projektion und Musik) in einem akrobatischen Duett. Zeit für Bewegungswitz und freies Liebesspiel ohne Dominanz gegen die Frau. Der Zoom zieht weit auf, Granatfeuer quer über den Raum. Doch unter den Granateinschlägen stehen acht junge Leute aufrecht zusammen. Sagi Gross thematisiert seine eigene Heimat-Zerrissenheit angesichts des ungelösten Nahostkonflikts seit dem Gazakrieg 2008. Sagi Gross zeigt uns eine märchenhafte Nacht der Selbstveränderung und Möglichkeiten zum aufrechten Gang.

Lang anhaltender verdienter Beifall honoriert am Ende eine intensive Ensembleleistung.

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