Zwischen Champagner und Pfandhaus

Das Büchlein des Althistorikers Wilfried Nippel ersetzt trotz etwas Boulevard etliche Wälzer zu Leben und Werk von Marx

  • Armin Jähne
  • Lesedauer: 4 Min.

Pünktlich zum Marx-Jubiläum brachte der Verlag C.H. Beck in seiner Reihe »Wissen« einen Band über Leben und Werk des großen Politökonomen und Philosophen heraus. Verfasst hat ihn Wilfried Nippel, emeritierter Professor für Alte Geschichte und renommierter Wissenschaftshistoriker. Er hat über Barthold Georg Niebuhr, Edward Gibbon, Johann Gustav Droysen, Theodor Mommsen, Carl Schmitt und andere Geistesgrößen des 19. und 20. Jahrhundert geforscht und geschrieben. Diese geistesgeschichtliche Ausrichtung prädestinierte ihn geradezu, sich auch in einer gut recherchierten kleinen Studie mit Person und Werk des »Alphakopfes« der modernen Philosophie zu beschäftigen.

Nippel äußert sich nicht einfach über Karl Marx. Er kennt ihn, hat nicht wenige seiner Werke gelesen und sich kritisch-selbstbewusst, meist vorurteilsfrei mit seinen Theorien auseinandergesetzt. Er holt Marx nicht vom Sockel wie andere, die es wiederholt und verzweifelt versuchten und nicht nachlassen in diesem ihren vergeblichen Tun. Er lässt ihn einfach dort, wo er hingehört, im 19. Jahrhundert, und löst ihn nicht heraus aus dem Wissensumfeld, das ihn prägte, ihm Grenzen setzte, die er andererseits aber zu überwinden verstand, und er rüttelt nicht an der Marxschen Gesellschaftsanalyse, nicht daran, dass er die kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit messerscharfem Verstand sezierte. Und er hat recht, wenn er eine Marxsche Theorie der Antike verneint, die es einfach nicht gab, wie auch Marx keine Theorie der sozialistischen, geschweige denn der kommunistischen Gesellschaften entwickelte. Visionen sind Zukunftsbilder, in der Regel ohne wissenschaftliche Fundierung und Verbindlichkeit.

Nippel geht anfangs chronologisch vor: vom jungen Marx über das Exil in Paris und Brüssel, über seine Rolle im Revolutionsjahr 1848/1849, das Exil in London bis hin zum »Neustart« ebendort, um die letzten drei Kapitel seiner Arbeit dem »Politiker hinter den Kulissen«, dem »Kapital« und seiner Editionsgeschichte und dem »Urmarxismus« Engelsscher Prägung zu widmen. Streitbar wird es, als Nippel sich das »Manifest der Kommunistischen Partei« vornimmt. In vielem, was er sagt, kann man mit ihm einer Meinung sein, so über das griffige »Gespenst des Kommunismus« als Chiffre für eine reale internationale Verschwörung oder die Paranoia der Regierungen. Im antikommunistisch verseuchten Deutschland hat sich die Angst davor bis heute nicht gelegt. Verwiesen sei nur auf das peinliche Gezerre um Chinas Geschenk an die Stadt Trier - die fünfeinhalb Meter hohe Karl-Marx-Statue, an der sich Ex-DDR-Menschenrechtler und AfD-Mitglieder (»Marx vom Sockel holen«) gleichermaßen abarbeiten. Jedes Land der Welt wäre froh, einen Mann wie Marx unter seinen Geistesgrößen zu haben. In Deutschland drücken sich nicht wenige Zeitgenossen und Politiker verschämt in die Ecke, senken die Köpfe oder stimmen Hasstiraden an, wenn sie den Namen Marx hören. Ein Glück für ihn, dass sich sein Grab auf dem Highgate-Friedhof in London befindet.

Nach Widerspruch verlangt Nippels Feststellung, dass »die im Manifest unterstellte Reduzierung auf nur noch zwei Klassen, die zunehmende Verelendung der Arbeiter, die Zunahme ungelernter Arbeit ... (Fehl-) Prognosen« waren. Das Manifest war ein politisches Pamphlet und zeitgebunden, hielt aber am Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat als künftigen Haupt- oder Grundklassen im Kampf um soziale Gerechtigkeit fest. Vielleicht sollte der Begriff Proletariat, um das Zukunftsträchtige des Manifests zu verstehen, weiter gefasst werden und heute nicht allein auf den Fabrikarbeiter bezogen werden. Auf jeden Fall war das »Proletariat« auf weite Sicht die zahlenmäßig stärkste soziale und politische Kraft und - auch so kann man es sehen - »die Masse« (oder breite Menge), selbst aktiv und zugleich manipulierbar, die später Gustav Le Bon (1841 - 1931) für sich entdeckte und deren Psychologie er zur Wissenschaft erhob. Was die Zunahme ungelernter Billiglöhner angeht, braucht man nur die europäischen Großbaustellen zu besuchen. Verschätzt hatten sich die Verfasser des Manifests zweifellos hinsichtlich der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse, geblieben jedoch ist ihre relative Verarmung, d.h. die - modern ausgedrückt - weiter aufklaffende Schere zwischen hohen und niedrigen Einkommen.

Ein völlig unerwarteter Abfall in den Stil von Boulevardblättern findet sich im Kapitel »London - Das Elend des Exils«. Zwar wird die schwierige soziale Lage der Familie Marx nicht bezweifelt, aber dann doch etwas süffisant gefragt, ob es tatsächlich so schlimm war. Und wenn gar noch ein österreichischer Polizeispitzel von 1859 zitiert wird, der behauptet, dass »die Existenz des Marx ... in Pendelschwingen zwischen Champagner und Pfandhaus« besteht, glaubt der Rezensent seinen Augen nicht zu trauen. Teurer Sekt als Lebensmittel des Herrn Marx? Seine von Sorgen geplagte Frau Jenny hätte das gewiss unterbunden, und auch Freund Engels, der lieber Bier trank, sicherlich die Nase gerümpft.

Am Schluss seines großartigen und mit vielen Details gesättigten Bändchens meint Nippel, dass auch nach der Konjunktur zum 200. Marx nicht erledigt sein wird. Wäre es denkbar, dass er ein heimlicher Anhänger ist? Der Rezensent möchte das nicht unbedingt behaupten, aber: Wieso sonst schreibt Nippel so gute Bücher?

Wilfried Nippel: Karl Marx. Verlag C.H. Beck, 128 S., br., 9,95 €.

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