Yamswurzel und Cortison

  • Reinhard Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: 3 Min.
»Keine Depression! Reichstein« stand auf dem Telegramm aus Basel, das am 8. Juni 1951 in Mexico-City eintraf. Es war an Dr. Carl Djerassi und seine Zwergfirma Syntex gerichtet. Der frischgebackene Nobelpreisträger Tadeusz Reichstein (Erfinder der Vitamin-C-Synthese) hatte das von Djerassi synthetisierte Cortison mit Nebennieren-Cortison verglichen und für echt befunden. Djerassi machte einen Freudensprung. Die mexikanische Firma des 34-Jährigen hatte das Rennen um die Cortison-Synthese gewonnen! In den frühen 30er Jahren isolierten Reichstein und Edward C. Kendall das Cortison, ein Steroidhormon aus den Nebennieren. 1950 erhielten sie dafür den Nobelpreis. Etwa ein Jahr später wurde entdeckt, dass Cortison bei Patienten mit rheumatischer Arthritis schmerzlindernd wirkt. Angesichts der erwarteten Nachfrage suchte man nach einer chemischen Synthese. Doch die komplizierte Herstellung mit ihren 36 Schritten führte zu Kosten von etwa 400 Mark je Gramm Cortison. Carl Djerassi war in Wien aufgewachsen und vor den einrückenden Nazis in die USA geflohen. Ohne einen Penny in der Tasche kam er als 16-Jähriger in New York an. Er studierte trotzdem Chemie. Seine kleine mexikanische Firma Syntex isolierte dann aus der wildwachsenden ungenießbaren Yamswurzel das Steroid Diosgenin. Die Indios benutzten die Yamswurzel, um Wäsche zu waschen und Fische zu töten. Djerassi wandelte Diosgenin chemisch in das weibliche Sexualhormon Progesteron und auch in das männliche Testosteron um. Außerdem stand er im Wettkampf mit den bedeutendsten Chemikern der Welt, das begehrte Cortison chemisch zu erzeugen. Djerassi konnte sich nicht lange über seinen Erfolg freuen. Denn bald danach traf ein Schreiben der Firma Upjohn aus Südafrika ein. Zuerst glaubte er an einen Scherz: Upjohn fragte an, ob Djerassi kurzfristig zehn Tonnen (!) Progesteron liefern könne. Ein völlig abwegiges Ansinnen! Für Djerassi war klar, Upjohn musste einen effizienten Weg gefunden haben, Cortison über das Zwischenprodukt Progesteron herzustellen. Und tatsächlich: Zwei Wissenschaftler, Durey H. Peterson und Herbert C. Murray, hatten in Südafrika entdeckt, dass der Brotschimmelpilz Rhizopus arrhizus »spielend« im komplizierten Gerüst des Steroids Progesteron eine OH-Gruppe an der richtigen Position einbauen konnte. Mit Hilfe der Mikroben ließ sich die Synthese von 36 auf 11 Schritte verkürzen. Der Cortisonpreis sank dadurch auf 15 Mark pro Gramm, 1980 durch weitere Verbesserungen auf unter zwei Mark. Die Beispiele Cortison (und vorher schon Vitamin C) zeigen: Biotechnologie und Chemie sind keine »Entweder-oder«-Alternativen. Die Kombination biologischer und chemischer Prozesse wird im nächsten Jahrzehnt stark wachsen. Dabei vollziehen Mikroben oder ihre Enzyme gezielte Synthesen, die rein chemisch sehr teuer oder umständlich sind. Wenige Monate später fand Djerassi seine Fassung wieder. Er synthetisierte mit Georg Rosenkranz und Luis Miramontes Norethindron, das erste zugelassene orale Kontrazeptivum. Carl Djerassi wurde 1957 zum »Vater der Anti-Babypille«, dadurch Millionär, Kunstsammler und -mäzen. Heute, 84-jährig und in seiner zweiten Karriere, schreibt er, wie er es nennt »Science-in-Fiction«: spannende Romane über Wissenschaftler. Ich habe sie alle verschlungen. Auslöser für diese Biolumne war Post von Djerassi. Stolz schickte er mir für mein neues Biotech-Buch eine österreichische Briefmarke. Darauf sein Porträt vor dem Hintergrund Wiens und der Text: Carl Djerassi, Chemiker/Romancier: 1923 geboren, 1938 vertrieben, 2003 versöhnt.

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