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Mediziner: »Tiermodelle sind zur Routine geworden«

Der Mediziner und Toxikologe Thomas Hartung über Alternativen zu Tierversuchen

  • Interview: Anja Laabs
  • Lesedauer: 5 Min.
»Organ-on-Chip-Systeme« enthalten kleine dreidimensionale Ausschnitte eines nachgebildeten Organs in Form von Chips. Sie sind in etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze.
»Organ-on-Chip-Systeme« enthalten kleine dreidimensionale Ausschnitte eines nachgebildeten Organs in Form von Chips. Sie sind in etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze.

Die meisten Gelder, nämlich 99 Prozent, fließen laut Angaben des Bundesinstituts für Risikobewertung in die tierversuchsbasierte Forschung. Davon sind fast 60 Prozent Forschung ohne konkreten Auftrag und mehr als 30 Prozent anwendungsorientierte Forschung und vorgeschriebene Medikamenten- und Chemikalienprüfungen. Gibt es dort größeren Bedarf und mehr Fortschritte als in der Forschung ohne Tierversuche?

Ich bin sicher, dass der Erkenntnisgewinn in der tierversuchsfreien Forschung viel höher ist! Besonders gut zeigt sich das in der Toxikologie, also der Wissenschaft über giftige Stoffe. Dort wird an humanbasierten Methoden, auf der Basis menschlicher Zellen und Daten, geforscht. Dadurch sind inzwischen viel bessere Vorhersagen für den Menschen möglich. Darum geht es ja schließlich bei Medikamenten – um Vorhersagen zu Wirkung und Nebenwirkungen. Die pharmazeutische Industrie hat das als erste begriffen und den Einsatz von Tierversuchen sehr reduziert. Der Wissenszuwachs in der Tierversuchsforschung ist geringer. Trotzdem fokussieren sich viele Fördermittelgeber, Ethikkommissionen und wissenschaftliche Zeitschriften nach wie vor stark darauf. Obwohl es längst widerlegt ist, gelten Tierversuche immer noch als »Goldstandard«.

Schon vor 40 Jahren wurden auf europäischer Ebene strengere Tierversuchsstandards gesetzt. Aber anstatt Tierversuche zu ersetzen, nimmt ihre Zahl sogar wieder zu. Wie ist das möglich?

»Tiermodelle« sind über Jahrzehnte zur Routine geworden und inzwischen kulturell, ökonomisch und institutionell als legitime Testmethoden anerkannt. Das Verrückte dabei ist, dass ihre Nachteile oft ignoriert werden. Es gibt kaum Publikationen, in denen über negative Ergebnisse aus Tierversuchen berichtet wird. Behörden fordern immer noch Prüfverfahren mit Tierversuchen. Trotzdem bildet das europäische Recht einen wichtigen ethischen und wissenschaftlichen Rahmen für viele Förderprogramme. Dazu gehört auch das 3R-Prinzip. Es steht für Ersatz, Reduktion und Verbesserung von Tierversuchen. Das ist heutzutage aktueller denn je. Inzwischen sind weitere Kriterien dazugekommen. Problematisch ist, dass die Möglichkeit, Tierversuche durchzuführen, oft mit Wissenschaftsfreiheit verwechselt wird. Besonders rechtskonservative Menschen stempeln ethisch motivierte Kritik an Tierversuchen oft als »woke« ab. Das nutzen auch Lobbygruppen aus der Grundlagenforschung, um den Status quo zu erhalten. Allerdings gilt das selbst für scheinbar progressive Menschen, die Tierversuche immer noch für ein geeignetes Mittel halten, um zu zeigen, was »böse« Chemie anrichten kann. Nicht zu unterschätzen sind die nach wie vor traditionell männlichen Machtstrukturen im akademischen Bereich, die alternative Ansätze blockieren.

Interview

Thomas Hartung ist Professor für evidenzbasierte Toxikologie an der Johns Hopkins School of Public Health in den USA. Von 2002 bis 2008 war er Direktor der Europäischen Prüfstelle für Tierversuchs-Alternativen (ECVAM). Für sein Engagement für eine tierversuchsfreie Forschung wurde Hartung am 5. Juli in Berlin mit dem Peter-Singer-Preis ausgezeichnet.

Was sind Erfolge alternativer Testmethoden?

Die wichtigsten Ersatzmethoden gibt es mittlerweile in drei Bereichen: erstens bei Tests auf fieberauslösende Stoffe. Dafür gibt es alternative Verfahren, bei denen nur noch mit bestimmten Immunzellen gearbeitet wird. Zweitens bei Verfahren, die Haut oder Augen reizen. Hier nutzt man In-vitro-Modelle, bei denen Substanzen auf einer Ersatzhaut getestet werden. Drittens betrifft es Giftigkeitsprüfungen für das Gehirn und Nervensystem. Hier kommen Gehirnorganoide zum Einsatz, also künstlich gezüchtete Minigehirne. Ersatzorgane sind auch der Bereich, in dem wir viel forschen. Schwerpunkte in der tierversuchsfreien Forschung sind vor allem technische Systeme wie Organ-on-a-Chip-Verfahren. Dabei werden auf einem Minichip Organe nachgeahmt. Auch mit künstlicher Intelligenz, maschinellem Lernen und mathematischen Modellen kann die Wirksamkeit von Stoffen für Mensch oder Umwelt zunehmend vorhergesagt werden. Klar nutzt man dafür auch schon bekanntes Wissen. Außerdem gibt es die große Gruppe der Omics-Technologien, bei denen nicht nur einzelne Gene, sondern das gesamte Zusammenspiel von Zellbausteinen untersucht wird.

Sie haben den Peter-Singer-Preis für Ihre Forschung im Bereich alternativer Testverfahren erhalten. Welche Verfahren haben Sie entwickelt?

Schon in meiner Doktorarbeit schlug ich einen Test vor, der Entzündungen in der Leber imitiert. Dieser Test wird immer noch in der Industrie verwendet. Danach folgten Arbeiten zum Ersatz von Fiebertests an Kaninchen. Dafür entwickelte ich Tests, bei denen bestimmte Immunzellen, sogenannte Monozyten, aktiviert werden. Durch diese Verfahren hat die europäische Arzneibuchbehörde Kaninchenversuche gerade erst von der Liste gestrichen. Als ich die Europäische Prüfstelle für Tierversuchs-Alternativen (ECVAM) leitete, wurden 26 Tierversuche durch Alternativen ersetzt. Inzwischen wurden sie von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) offiziell anerkannt. An der Johns Hopkins School of Public Health entwickelten wir sogar Rechenmodelle, die viele anerkannte Tierversuche in ihrer Wirksamkeit übertrafen. Leider werden diese Modelle bisher kaum eingesetzt. Ihnen wird noch zu wenig vertraut.

Was sind aus Ihrer Sicht die besten Strategien, um zukünftig die Zahl der Tierversuche zu verringern oder diese sogar zu beenden?

Es braucht bessere Durchsetzungsstrategien auf politischer und gesetzlicher Ebene und mehr Anreize für die Wissenschaft, alternative Prüfverfahren zu entwickeln. Klar müssen diese dann auch von den Behörden anerkannt werden. Außerdem muss viel mehr in tierversuchsfreie Testmethoden investiert werden. Dazu gehört, dass die Öffentlichkeit über Misserfolge bei Tierversuchen informiert wird. Toll ist, dass die amerikanische Gesundheitsbehörde, Umweltbehörde und die Nationalen Gesundheitsinstitute (Anfang Juli 2025, Anm. d. Red.) angekündigt haben, die Zahl der Tierversuche zu verringern. In der EU konnte in den vergangenen Jahren etwa eine Million Versuche an Tieren durch alternativen Methoden ersetzt werden. Meine große Vision ist ein Projekt, das die Wirkung von Chemikalien auf unsere Körper systematisch erfasst und speziellen Krankheiten zuordnet. Anstatt Ratten zu vergiften, wird dann dort gemessen, wo die Stoffe tatsächlich im Körper hingelangen – natürlich tierfrei.

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