Mundraub

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor 30 Jahren hatte ich einen Bekannten in Frankfurt am Main. Wir nannten ihn alle nur Cheesy, was seiner Vorliebe für Käse allerlei Sorten geschuldet war. Cheesy war Italiener, genauer: italienischer Kommunist. Er lebte in einer Studenten-WG in Frankfurt und hatte es mit den deutschen Genossinnen und Genossen nicht leicht. Cheesy war italienischer Proletarierer, d.h. gutes Essen und gute Kleidung waren ihm wichtig. Im Seminar saß er immer mit Anzug und seinen Käse kaufte er jeden Mittwoch auf dem Wochenmarkt an der Bockenheimer Warte beim Händler seines Vertrauens. Die Ware war nicht billig, dafür erwarb Cheesy eben nur kleinere Mengen von Käse. Diesen verköstigte er dann in hauchdünn geschnittenen Scheiben. Seine Mitbewohner - Kinder von Studienräten und Rechtsanwälten - kauften lieber beim Discounter, dafür aber in größeren Mengen. Natürlich wussten auch sie, was ein guter Käse ist, weshalb sie die Billigware im Kühlschrank liegen ließen und sich an den Vorräten ihres italienischen Genossen gütlich taten. Das war ärgerlich für Cheesy und er äußerte darüber desöfteren seinen Unmut. Vergeblich, die deutsche Bourgeoisie betrieb weiterhin Mundraub an der italienischen Arbeiterklasse!

Die deutsche Linke, so viel ist sicher, hat noch viel von der italienischen zu lernen. Auch in Berlin ist das nicht anders, wobei hier erschwerend dazukommt, dass die Berliner Küche … ach, lassen wir das. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche: auf die Gentrifizierung und ihre Vorgeschichte. Vor gut 20 Jahren war die Gegend rund um den Boxhagener Platz in Friedrichshain noch keine Fress- und Saufmeile für Touristen und Studenten, sondern bildete die Frontlinie zwischen linker und rechter Subkultur. Außer ein paar Schultheiß-Eckkneipen gab es keine Lokalitäten, und essen konnte man an der Warschauer Brücke beim Döner-Imbiss. Das erste Restaurant der etwas anderen Art war die »Tomate«. Im Innenraum erwarteten die Gäste weiß gedeckte Tische, weiße Stoffservietten, Kellner mit weißen Handschuhen und eine Speisekarte, die nur wenige, dafür aus mehreren Gängen bestehende Menüs anbot. Das billigste Menü für zwei Personen kostete 80 Mark.

Die Pächter und der Koch setzten auf Qualität - und auf Transparenz. Man konnte von außen durch eine breite Fensterfront den gesamten Gastraum einsehen. Das und die Tatsache, dass hier jemand das Wagnis Gastronomie eingehen wollte, war ein Fehler. Schon nach einigen Tagen war die Leuchtreklame über dem Eingang »entglast« (lose Pflastersteine gab es auf dem Boxhagener Platz genug!), und im Kiez war es eine ausgemachte Sache, den »dekadenten Nobelschuppen« zu boykottieren. Nach drei Monaten gaben die Betreiber des Restaurants auf.

Heute gibt es ganz viele Lokalitäten rund um den Boxhagener Platz. Jede sieht gleich aus, jede bietet »internationale Küche« an. Sie haben sich bemüht, sich »kreativ« klingende Namen wie »100 Wasser« oder »Plusminusnull« zu geben, und bieten am Wochenende Brunch an - pro Person für 10 bis 15 Euro. Und auf dem Platz gibt es gar nicht so viele lose Pflastersteine, wie man gerne hätte.

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