Gedankenopulenz im Setzkasten

Die Oper in Amsterdam glänzt mit einer Produktion von Jacques Offenbachs »Les Contes d’Hoffmann«

  • Roberto Becker
  • Lesedauer: 3 Min.

Pierre Audi hält einen der Langzeitrekorde unter den Intendanten europäischer Opernhäuser. Bereits seit 1988 bestimmt er das künstlerische Profil der Oper in Amsterdam. Jacques Offenbachs »Les Contes d’Hoffmann« ist die letzte eigene Neuproduktion seiner Intendanz. Im kommenden Jahr wird er das Musikfestival in Aix-en-Provence übernehmen. Als Intendant hatte er auch das Außergewöhnliche im Blick, als Regisseur hat er Konkurrenz nie gescheut. Amsterdam liegt geografisch am Rand von Opern-Europa - doch dank Audi gehört es zweifellos nicht nur dazu, sondern zum Kern.

Da ist es nur gerecht, wenn das Finale so spektakulär gelingt wie jetzt mit Tobias Kratzers Inszenierung. Der hat gerade in Karlsruhe eine spektakuläre »Götterdämmerung« hingelegt und wird im nächsten Jahr in Bayreuth den neuen »Tannhäuser« inszenieren.

In Amsterdam ist das Top-Protagonisten-Ensemble die Morgengabe des Hauses. John Osborn als Hoffmann und seine drei »Wunschfrauen« Nina Minasyan (Olympia), Ermonela Jaho (Antonia) und Christine Rice (Giulietta) sind erstklassig. Herausragend die Muse von Irene Roberts, die hier eine in ihren Mentor verliebte Frau ist. Natürlich hat Erwin Schrott das Charisma für alle teuflischen Rollen im Stück. Alle Nebenrollen stimmen. Und Carlo Rizzi am Pult des Rotterdamer Philharmonischen Orchesters legt sich mit Leidenschaft als Anwalt Offenbachs ins Zeug. Musikalisch und stimmlich - ein Wurf aus einem Guss.

Szenisch geht es nicht weniger spektakulär zu. Der Ausstatter Rainer Sellmaier hat eine atemberaubende Setzkastenbühne gebaut. Die Behausung Hoffmanns erinnert an die Bude eines schlecht bezahlten Selbstverwirklichers. Sie »schwebt« in der Bühnenmitte, mit allem, was der dichtende oder bildenden Künstler so braucht. Für die Freunde ist die Tür zum Saufen und Singen, Blödeln und Koksen immer offen. Dieses »Bei Hoffmann daheim« ist das Zentrum. Drum herum öffnen sich die Räume für die Geschichten seiner drei »Teil-Frauen«. Gespenstisch ist das schon beim Olympia-Konstrukteur, bei dem die Glasaugen offenbar nicht für alle Versuchsexemplare reichen. Die misslungenen entsorgt er in Verschlägen auf dem Dachboden. Das gelungene führt er der gaffenden Menge in einem kleinen Haustheater vor. Im Keller auf einer kleinen Bühne singt Olympia. Gleich nebenan im Bett spielt sie hopsend in Reiterstellung die Liebende. Und das Publikum feixt sich eins.

Im etwas nobleren Hause strebt dann Antonia im wahrsten Wortsinn nach Höherem. Hinauf zu der Stimme der toten Mutter, die von oben kommt. Da die nur von einem altmodischen Trichtergrammofon auf dem Dachboden kommt, folgt dem Schock der Erkenntnis die Katastrophe: Antonia zerbricht die Schellackplatte und macht ein Bruchstück zum Selbstmordwerkzeug.

Daheim verfolgt die »Muse« Hoffmanns Traumaverarbeitung durch Nacherzählen und Durchleben des Endes dieser beiden Frauen nicht nur mit, sie durchleidet sie auch. Erkennt sich selbst als Opfer der Beziehungsunfähigkeit eines Künstlers, der diese Erfahrungen allenfalls in seiner Kunst verarbeitet. Mit einem Augenzwinkern dann der Venedig-Akt. Zur Barcarole gibt es nicht die schunkelnden Gondeln auf dem Canale Grande, sondern einen Verweis auf den Ursprung dieses Offenbach-Hits. Was sich da gleichsam in den unterirdischen Kanälen tummelt, erinnert an Offenbachs fast vergessene Oper »Rheinnixen« und wird zum Ort des Unterbewussten. Der Schattenverkäufer Schlemihl setzt sich hier einen goldenen Schuss.

In seiner »richtigen« Welt hat Hoffmann derweil selbst ein solches Drogenproblem, sodass sich seine Freunde beziehungsweise Saufkumpane von ihm zurückziehen. An der Rampe, außerhalb der eigentlichen Szene; von wo vorher der teuflische Einflüsterer immer mal das Publikum angesungen hat, versammelt sich das komplette Personal noch einmal, während die Muse ihre Bemühungen um Hoffmann auf- und ihm die Studien, die sie im Laufe der Zeit gemacht hat, übergibt. Das aufgeschlossene Amsterdamer Premierenpublikum ließ sich von der Musik begeistern und auf Kratzers so intelligente wie opulente Lesart ein.

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