Erdogans Wahlkampf stockt

Türkei: Menschen sehen sich mit ökonomischen Problemen konfrontiert

  • Jan Keetman
  • Lesedauer: 3 Min.

Irgendwie ist dieser Wahlkampf anders als frühere Erdogan-Wahlkämpfe. Die Opposition erscheint angriffslustig und ideenreich, Erdogan hingegen müde, seine Anhänger wenig enthusiastisch. Sonst war es eher umgekehrt. Es könnte an der Wirtschaft liegen: Eine Horrormeldung jagt die andere. Die Inflation ist im Mai auf 12,15 Prozent gestiegen. Zuletzt hat die Agentur Moody’s mit einem Schlag die Bonität von elf großen Firmen, alles Filetstücke der türkischen Wirtschaft wie die Türk Telekom und Turkish Airlines, schlechter bewertet. Kurz darauf geschah dies mit 17 türkischen Banken. Es knistert im Gebälk. Nicht besser sieht es bei den Renten aus. Da gibt es zum Beispiel die Berichte, dass Menschen nicht die volle Rente ausbezahlt bekommen. Ohnehin sind die Renten oft sehr niedrig. Nach Erdogan bekommt in seinem Land, »von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen«, niemand weniger Rente als den Mindestlohn. Nach der offiziellen Statistik sind das aber immerhin 5,5 Millionen - etwa die Hälfte aller Rentner in der Türkei.

Apropos Auszahlen: Im Wahlkampf hatte Erdogan versprochen, jedem Rentner zum Zuckerfest am Ende des Ramandan und zum Opferfest jeweils 1000 Lira (ca. 200 Euro) extra zu bezahlen. Da der Wahltermin kurz nach dem Zuckerfest liegt, würden die Wähler die Wohltat zum richtigen Zeitpunkt spüren. Die Leute witzelten, die erste Rate werde wohl kommen, die zweite aber nicht mehr. Sie irrten, die erste Rate kam vielfach auch nicht, jedenfalls nicht in voller Höhe. Eine Regierung, die mitten im Wahlkampf so agiert, muss schon sehr große Probleme haben.

Dabei wollte Erdogan seinen Wahlkampf ursprünglich vor allem mit einem wirtschaftlichen Thema führen. »Wer Zinsen erhöht, bekommt es mit mir zu tun«, hatte er getönt. Mittlerweile musste die Zentralbank gleich dreimal die Zinsen anheben, um ein weiteres Abgleiten der Türkischen Lira zu verhindern. Nur die staatliche Religionsbehörde hält noch zu Erdogans Antizinskurs und hat im ganzen Land gegen Zinsen predigen lassen.

Es wird immer wieder berichtet, das rapide Wirtschaftswachstum der Türkei sei auf ausländische Kredite gebaut. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Eine Rolle spielte auch die Einschränkung der Rechte von ArbeitnehmerInnen. Unter den Bedingungen des seit zwei Jahren herrschenden Ausnahmezustandes ist es noch schlimmer geworden. Seit zwei Jahren wird in der Türkei jeder Streik verboten. Als Folge sind die Lohnstückkosten der Industrie noch einmal dramatisch zurückgegangen. Das reicht aber nicht, um den Boom aufrechtzuerhalten.

Kadri Gürsel, Vertreter des International Press Insitute in der Türkei, meint, die Regierung habe zwar viele Vorteile in der Hand, insbesondere beherrsche sie die Medien fast vollständig, aber ihr fehle es an einer Vision in diesem Wahlkampf. Sie habe den Wählern nichts zu sagen.

Dass Erdogan nun nach Entmachtung der Justiz und Degradierung des Parlaments auch bei der Zentralbank die Macht übernehmen und seine Landsleute mit niedrigen Zinsen beglücken will, scheint so seine Vision gewesen zu sein. Das ist gründlich schief gegangen. Erdogan hat aber auch kein zugkräftiges neues Thema gefunden. Sein mutmaßlicher Hauptkonkurrent um das Amt des Präsidenten, Muharrem Ince, bietet wenig Angriffsfläche und erweist sich als gewandter Redner. Doch auch wenn es für Erdogan diesmal keineswegs rund läuft, die Wahl hat er damit noch nicht verloren. Wenn es ihm gelingt, die Linkspartei HDP - mit welchen Mitteln auch immer - unter die Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament zu drücken, ist ihm die Parlamentsmehrheit kaum zu nehmen. Außerdem gehen fast alle Umfragen davon aus, dass Erdogan zwar Schwierigkeiten in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl haben könnte, dass sein Sieg in einer möglichen Stichwahl am 8. Juli aber sicher ist. Das liegt daran, dass keiner der Oppositionskandidaten darauf hoffen kann, dann alle Stimmen der Opposition zu bekommen. Erdogans Regime wackelt, ob es fällt ist aber höchst ungewiss.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal