Schwerer Angriff auf »Ocean Viking«

Libysche Miliz feuert 20 Minuten lang auf Rettungsschiff im Mittelmeer – 87 Geflüchtete an Bord

Bei dem 20 Minuten dauernden Angriff wurde niemand verletzt – jedoch das Schiff sowie Ausrüstung an Deck schwer beschädigt.
Bei dem 20 Minuten dauernden Angriff wurde niemand verletzt – jedoch das Schiff sowie Ausrüstung an Deck schwer beschädigt.

Die libysche Küstenwache hat am Sonntagnachmittag die »Ocean Viking« gezielt unter Beschuss genommen. Zum Zeitpunkt des Angriffs fuhr das unter norwegischer Flagge fahrende Seenotrettungsschiff nach Angaben der Betreiber in internationalen Gewässern, etwa 40 Seemeilen nördlich der libyschen Küste. Obwohl niemand körperlich verletzt worden sei, hätten alle an Bord um ihr Leben gefürchtet, heißt es in einer Mitteilung.

Die »Ocean Viking« wird von SOS Meditérranée und der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften betrieben. An Bord befanden sich bei dem Vorfall insgesamt 87 Geflüchtete, die zuvor in zwei Seenotfällen gerettet worden waren. Während die Crew nach einem Alarm einen dritten Notfall suchte – und dazu offenbar von der maritimen Leitstelle in Rom autorisiert war – soll sich ein Patrouillenboot der libyschen Küstenwache genähert und den Kapitän zum Abdrehen aufgefordert haben.

Ohne Vorwarnung hätten zwei Männer an Bord des Patrouillenboots das Rettungsschiff mindestens 20 Minuten lang unter Dauerfeuer genommen – offenbar mit automatischen Waffen. Die libysche Miliz soll die »Ocean Viking« dabei umkreist und insbesondere die Brücke ins Visier genommen haben. Die Bilanz des Angriffs: Einschusslöcher auf Kopfhöhe, zerstörte Antennen, vier zerbrochene Brückenfenster sowie schwer beschädigte Schnellrettungsboote und weitere Rettungsausrüstung. Die Crew habe Hunderte Einschusslöcher gefunden, erklärte eine Sprecherin »nd«.

SOS Meditérranée ist eine europäische humanitäre Organisation zur Seenotrettung im zentralen Mittelmeer. Gegründet wurde sie 2015 in Deutschland und Frankreich als zivilgesellschaftliche Reaktion auf das Sterben im Mittelmeer und das Scheitern der Europäischen Union, dieses zu verhindern. Die »Ocean Viking« ist ein Offshore-Versorger, der seit Sommer 2019 von SOS Meditérranée zur Seenotrettung eingesetzt wird.

Während der Attacke am Sonntag habe die Crew die Menschen an Bord in Sicherheit gebracht. Anschließend habe die »Ocean Viking« einen Notruf ausgesendet und die im Mittelmeer operierende Maritime Sicherheitsoperation der Nato alarmiert, um Schutz und Hilfe zu erhalten. Dieser Notruf sei an ein Schiff der italienischen Marine als nächstgelegene Einheit weitergeleitet worden – das den Notruf laut SOS Meditérranée jedoch nicht entgegennahm.

Das bei dem Angriff eingesetzte libysche Patrouillenboot war 2023 von Italien im Rahmen eines 59 Millionen Euro umfassenden EU-Programms zur Migrationskontrolle vor zwei Jahren gespendet worden. »Wir fordern eine umfassende Untersuchung der Ereignisse und die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die für diesen Angriff verantwortlich sind«, erklärt Soazic Dupuy, Einsatzleiterin von SOS Meditérranée. Im März sowie im Juli 2023 hatte ein libysches Patrouillenboot bereits während einer Rettung einzelne Schüsse auf die »Ocean Viking« abgegeben. Trotz öffentlicher Forderungen der Hilfsorganisation wurden nach diesen früheren Vorfällen – soweit bekannt – keine Ermittlungen eingeleitet.

Die »Ocean Viking« befindet sich nun auf dem Weg nach Siracusa, ihrem Heimathafen, um dort die 87 Geretteten sicher an Land zu bringen und dringend notwendige Reparaturen durchzuführen. Die italienischen Behörden haben das Ziel bestätigt. Eine solche Genehmigung des Hafens zur Ausschiffung der Geflüchteten ist notwendig, da die Behörden ansonsten nach einem neuen Dekret Strafmaßnahmen gegen die Betreiber eines Schiffes einleiten können.

Der Angriff sorgte bei migrationssolidarischen Organisationen für Entsetzen. »Milizen, finanziert von der EU. Diese neue Eskalation der Gewalt gegen Schutzsuchende muss jetzt enden«, schrieb der deutsche Verein Sea-Watch auf X. »Wie viele Kinder, Familien und Migranten müssen noch sterben, bevor endlich ein koordiniertes Such- und Rettungssystem eingerichtet wird, das solche Tragödien verhindert?«, erklärte das Kinderhilfswerk Save the Children.

»Statt Deals mit libyschen Milizen brauchen wir endlich sichere Fluchtwege«, kommentiert die linke Bundestagsabgeordnete Lea Reisner den beispiellosen Vorfall. Die Schüsse seien das Ergebnis einer Abschottungspolitik, die Menschenrechte systematisch ignoriert und vor der Seenotrettungsorganisationen seit Jahren warnen, sagt die außenpolitische Sprecherin der Linksfraktion zu »nd«.

Die Attacke auf die »Ocean Viking« war der Höhepunkt eines ohnehin tragischen Wochenendes im Mittelmeer. Freitagnacht sind drei Schwestern aus dem Sudan im Alter von 9, 11 und 17 Jahren ums Leben gekommen, nachdem in stürmischer See Wasser in ihr überfülltes Schlauchboot eindrang. Freiwillige der deutschen Hilfsorganisation RESQSHIP hatten den Seenotfall in internationalen Gewässern nördlich von Libyen entdeckt und rund 60 weitere Insassen gerettet.

Von einer – möglicherweise derselben – libyschen Miliz bedroht wurde auch das Rettungsschiff »Trotamar III« der Organisation Compass Collective aus dem Wendland. Die Crew stieß nach eigenen Angaben am Sonntagmorgen auf hoher See auf ein manövrierunfähiges Glasfaserboot mit 22 Menschen an Bord. Alle Personen wurden an Bord genommen. Auf dem Weg nach Lampedusa erhielt der Kapitän einen Notruf über weitere 60 Menschen in Seenot. Die Crew musste die Suche aber abbrechen, nachdem ein Schiff der libyschen Küstenwache auftauchte und die »Trotamar III« zum Kurswechsel nach Norden zwang.

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