Schweiz: Neue Bewertung zu polizeilichen Todesschüssen

Unabhängige Kommission widerlegt offizielle Version zum 2021 getöteten Roger Nzoy

Rekonstruktion von Border Forensics: Nzoy wurde erschossen, als er weglaufen wollte. Ein Messer hielt er dabei nicht. Die Notwehr-These der Staatsanwaltschaft ist damit widerlegt.
Rekonstruktion von Border Forensics: Nzoy wurde erschossen, als er weglaufen wollte. Ein Messer hielt er dabei nicht. Die Notwehr-These der Staatsanwaltschaft ist damit widerlegt.

Eine unabhängige Untersuchungskommission zum von der Polizei erschossenen Roger Nzoy Wilhelm stellt fest: der Einsatz am 30. August 2021 im waadtländischen Morges war unverhältnismäßig. Die Schweizer Beamt*innen hätten den 37-Jährigen fälschlich als Bedrohung eingestuft und ihm nach dem Gebrauch der Schusswaffe keine Hilfe geleistet, sodass er verblutete.

Nzoy, Musiker und Sohn einer Schweizerin und eines Südafrikaners, wuchs in Zürich auf. Ihm war eine paranoide Schizophrenie attestiert worden. Am Todestag fuhr er mit dem Zug von Zürich nach Genf und zurück nach Morges – wohl in einer psychotischen Episode. Weil er Gleise überquert und auf dem Bahnsteig gebetet hatte, sprach ihn Bahnpersonal an. Kurz darauf trafen zwei Polizeipatrouillen ein, binnen Sekunden feuerte ein Beamter dreimal, der sterbend am Boden Liegende wurde gefesselt und durchsucht. Erst eine zufällig anwesende Krankenschwester durfte Nzoy nach sechs Minuten helfen.

Die Kommission wurde 2023 von Nzoys Familie gegründet. Sie vereint Jurist*innen, Ärzt*innen, Soziolog*innen und arbeitet eng mit der NGO Border Forensics zusammen, die sich auf die digitale Analyse staatlicher Gewalt spezialisiert hat. Anlass für die unabhängige Untersuchung war, dass die Waadtländer Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die beteiligten Polizist*innen zweimal einstellen wollte – und dies schließlich Ende November 2024 auch tat: Der Schütze habe in Notwehr gehandelt.

Die Familie des Opfers legte gegen die Entscheidung erfolgreich Berufung ein: Ende Mai 2025 ordnete das Kantonsgericht die Wiederaufnahme an. Dafür dürfte der Bericht der Kommission neue Hinweise bringen – er widerlegt die Notwehr-These. Mithilfe von Videoanalysen und 3D-Modellen wird klar, dass Nzoys Hände kein Messer gehalten haben. Die Schussabgabe erfolgte, während er weglief.

Auch danach hätten die Beamt*innen laut des Berichts gravierend gegen Vorschriften verstoßen – etwa indem auf lebensrettende Maßnahmen verzichtet wurde. Beweismittel seien unvollständig gesichert oder verfälscht, Metadaten von Videos gelöscht worden. Zeugenaussagen blieben widersprüchlich und unüberprüft, in den Akten fehlten Funkprotokolle. Die Kommission spricht deshalb von einem »Regime der Straflosigkeit« bei Todesfällen im Polizeikontext.

Dass Nzoy als Gefahr behandelt wurde, sei laut der Kommission auf seine Hautfarbe zurückzuführen. Dieses Muster zeige sich in zwei Drittel von 83 polizeibezogenen Todesfällen seit 1992, die von der Kommission in einem »Archiv der Abwesenheit« dokumentiert wurden: Opfer sind oft Menschen, die durch rassistische Zuschreibungen, psychische Erkrankung oder prekären Aufenthaltsstatus ins Visier der Polizei geraten. Der Kanton Waadt, wo Morges liegt, ist diesbezüglich der größte Brennpunkt in der Schweiz – seit 2016 gab es dort allein sieben Fälle von rassifiziertem »Othering«, wie die Kommission diese Ausgrenzungsprozesse bezeichnet.

»Die Erkenntnisse verweisen erneut darauf, dass migrantische und schwarze Personen aus der Arbeiterklasse vor der Polizei nicht ›sicher‹ sind – im Gegenteil«, kommentiert die Forscherin und Aktivistin Vanessa Thompson den in der Tradition einer Aufklärung »von unten« stehenden Bericht aus der Schweiz. Ähnlich wie die Initiative im Gedenken an Oury Jalloh habe gezeigt werden können, dass Polizei und Staatsanwaltschaft »aktiv an der Nicht-Aufklärung sowie systematischen Täter-Opfer-Umkehr beteiligt sind«.

Hinterbliebene erleben im Kampf um Gerechtigkeit oft doppelte staatliche Gewalt – zunächst durch den Tod eines geliebten Menschen, dann durch langwierige, retraumatisierende Verfahren, in denen das Opfer kriminalisiert wird. Nzoys Schwester wird im Bericht mit den Worten zitiert: »Ich möchte, dass die Welt ihn so in Erinnerung behält, wie er war – ein fröhlicher, witziger, hilfsbereiter Mensch.«

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