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  • Erhöhung des Renteneintrittsalters

Streit um Russlands Renten

Gesetzentwurf im Parlament und der Kreml hält sich raus / Erste Proteste gegen Anhebung des Eintrittsalters

  • Klaus Joachim Herrmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Gesetzentwurf der Regierung über die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Russland steht seit Montag auf der Tagesordnung des Dumakomitees für Arbeit. Doch steht Ärger nicht nur ins Hohe Haus. Eine Online-Petition soll bereits mehr als eine Million Unterstützer gefunden haben. Für eine Stellungnahme des Präsidenten sei es noch zu früh, suchte Kremlsprecher Dmitri Peskow seinen Chef zu Wochenbeginn noch schnell aus der Schusslinie zu holen. Die Rentenreform sei Sache der Regierung.

Doch solches Abwiegeln dürfte angesichts der verbreiteten Ablehnung einer Erhöhung des Renteneintrittsalters bei Frauen von 55 auf 63 und bei Männern von 60 auf 65 Jahre wenig helfen. Wenn auch der Schwarze Peter bei der Regierung seines langjährigen Vertrauten Dmitri Medwedjew liegt, steht Wladimir Putin doch im Wort. Er wurde von Journalisten an seine Versicherung aus dem Jahre 2005 erinnert, dass es keine Anhebung des Rentenalters im Lande geben werde, solange er Präsident sei. Das ist er aber nach 13 Jahren immer noch, und aus solchem Segen droht jetzt kräftiger Fluch zu werden.

Aus dem Süden Sibiriens drangen am Sonntag die ersten Nachrichten über Proteste gegen die Rentenreform in die Hauptstadt. Zwar gingen nur 300 Menschen in der mit 1,5 Millionen Einwohnern drittgrößten Stadt des Landes auf die Straße, doch dürfte in Nowosibirsk nur der Anfang gemacht worden sein. Meinungsumfragen hätten ergeben, dass sich 92 Prozent der Bürger Russlands gegen das Vorhaben der Regierung aussprechen, schrieb die »Obschaja Gaseta«.

Bei mageren acht Prozent Zustimmung fällt danach offenbar auch die treueste Anhängerschaft von Präsident und Regierung in den sie tragenden »Parteien der Macht« aus. Im Kreml fürchte man Proteste, die innenpolitische Verwaltung des Präsidialamtes sammle und analysiere die Nachrichten aus den Regionen, verlautete aus dem Kreml. Dort soll angedeutet worden sein, dass die Reform bei zu starkem Widerstand auch »abgemilderte« werden könne.

Die Zeiten hätten sich geändert, versichern derweil Kreml und Regierung. Das Kabinett, das seine umstrittene Vorlage am Samstag ins Parlament einbrachte, verweist auf eine wachsende Zahl von Rentnern und immer weniger Arbeitskräfte. Wenn aber die Renten jetzt und in Zukunft steigen sollen, müssten weniger Arbeitskräfte länger arbeiten. Das will die Regierung den Bürgern schmackhaft machen. Vizepremierin Tatjana Golikowa rechnet vor, statt 400 bis 500 Rubel Erhöhung in den Vorjahren würde bereits 2019 eine Aufbesserung von monatlich 1000 Rubeln (rund 14 Euro) möglich. Das wären dann im Jahr immerhin schon 12 000 Rubel mehr.

Arbeits- und Sozialminister Maxim Topolin sucht mit dem Rückblick auf die fernen 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts erregte Gemüter zu beruhigen. 1928 sei das Pensionsalter bei einer Lebenserwartung von nur 43 Jahren festgelegt worden. Jetzt erreichten die Bürger Russlands 73 Jahre und die Aussichten auf weitere Zuwächse seien gut. Dabei freilich gibt es regionale Unterschiede von bis zu 16 Jahren. Zehn Regionen lagen über 75, 20 aber unter 70 Jahren. 2014 hatten nach Angaben des Gesundheitsministeriums Frauen erstmals die Grenze von 77 Jahren überschritten, während Männer gerade einmal 65,6 Jahre erreichten.

Für die entwickelten Länder gelten Werte um 82 Jahre für Frauen und 78 Jahre für Männer. Die »Rossiskaja Gaseta« hilft dem Kabinett mit dem Verweis auf frühere Sowjetrepubliken. So gingen in Moldova und Aserbaidschan Männer erst mit 65 Jahren in Rente, für 2025 bis 2027 sei dies in den baltischen Staaten vorgesehen. In Armenien erhielten Frauen mit 63 Jahren Rente, Kasachstan folge diesem Beispiel. Die Menschen verlängerten ihre »aktive Lebensperiode«, seien länger arbeitsfähig, freut sich das Arbeitsministerium. Ohnehin würden 30 Prozent der Rentner ihre Arbeit fortsetzen - was freilich auch auf deren geringe Einkünfte schließen lässt.

Wenn auch die Partei der Pensionäre und die »Pensionäre für ein würdiges Leben« als Organisatoren des Protestes auf dem Nowosibirsker Leninplatz auftraten, trifft die Veränderung nicht deren bisherige Klientel. Ab 2019 soll die Anhebung des Rentenalters schrittweise erfolgen und trifft als erste Frauen des Geburtsjahres 1964 und Männer des Jahrgangs 1959. Von 2019 bis 2034 soll der Renteneintritt jährlich um ein Jahr angehoben werden. Von der Reform nicht betroffen sollen Werktätige an besonders gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen sein.

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