Einer nervt, viele erinnern sich

Christina Viragh: Hinreißend erzählt über eine Nacht im Flugzeug

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Emma sitzt im Flug von Bangkok nach Zürich neben dem Amerikaner Bill. Der Trip dauert einen halben Tag. Da er entgegen der Erddrehung nach Westen führt, fliegt die Maschine weiter in die Nacht; es wird erst nach der Landung hell. Die Nacht wird allen in Erinnerung bleiben.

Christina Viragh, mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin, ist nach dem Ungarn-Aufstand als Kind mit ihren Eltern in die Schweiz gekommen. Ihre Protagonistin Emma ist ebenfalls in Luzern aufgewachsen und lebt als Übersetzerin in Rom. Sie leidet. Ihr Sitznachbar, der Amerikaner Bill, geht nämlich davon aus, dass er und die in Hörweite sitzenden Passagiere einen zwölfstündigen Flug nicht überstehen, wenn er nicht ununterbrochen erzählt. Geschichten aus seinem Leben, Erfundenes, Verqueres. Und dabei trinkt er laufend Whisky ...

Eine in der Literatur nicht unbekannte Zwangsgemeinschaft von Reisenden - Christina Viragh nutzt diese Konstellation, um einer überbordenden Fiktionalität eine literarische Grundlage zu verschaffen, wie man es lange nicht gelesen hat. Bill nervt seine Mitreisenden, stiftet sie aber auch dazu an, sich ihrerseits zu erinnern und aus eigenem Erleben zu erzählen. So wird die vielleicht zehnköpfige Gruppe zu einem am Ende nicht undankbaren Auditorium unerhörter Geschichten. Bills Erzählungen spielen meist in Kansas, Emmas Erinnerungen an ihre Jugendliebe in Luzern, einiges auch am Kriegsende in Ungarn. Der geschiedene Vater einer heranwachsenden Tochter spricht von den römischen Fischzügen seiner Frau, die inzwischen als Lesbierin lebt. Vieles von dem, was Bill fabuliert, bleibt undurchsichtig, sodass sich die unfreiwilligen, aber dankbaren Zuhörer an der Lösung der Rätsel beteiligen. Sein Vater wurde im Vietnamkrieg getötet, doch Bill erhält viele Jahre später einen Abschiedsbrief von ihm. Ist die Post schuld, oder hat sein ihm missgünstiger Bruder das Schreiben vielleicht gefälscht? Oder: Wer hat einen Guru in der Prärie von Kansas umgebracht? Und wer wird der Nächste sein, der in einem von Treibsand umgebenen Teich ertrinken wird? Vieles ist ganz unwahrscheinlich, aber voller Fantasie ausgedacht und hinreißend erzählt.

Christina Viragh lässt ihrem Einfallsreichtum freien Lauf. Sie spielt mit der Doppelrolle, die sie als Emma und als Autorin einnimmt, wenn sie andeutet, alles Gehörte für ihren nächsten Roman verwenden zu wollen. Das hat sie mit »Eine dieser Nächte« wohl wahr gemacht.

Immer wieder verschmitzter Humor, der dann mit Ernsthaftigkeit wechselt. Ihr polyglotter Beruf spiegelt sich in englischen und italienischen Sprüchen. Für manches vulgäre Wort ist sich die gebildete Autorin nicht zu fein - die Unterhaltung im Flugzeug bringt es mit sich, und Bills Genuss von schottischem Whisky geht an niemandem spurlos vorüber. Nach der Landung in Zürich gehen die Passagiere auseinander. Die Autorin lässt sie laufen - nicht aber die Leser, die diesen Flug als literarisches Ereignis genießen.

Christina Viragh: Eine dieser Nächte. Roman. Dörlemann, 496 S., geb., 28 €.

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