Anwalt fordert sofortigen Freispruch

Reporter ohne Grenzen für die sofortige Einstellung des Prozesses / Staatsanwaltschaft plädiert für den Korrespondenten der Tageszeitung »Die Welt« 18 Jahre Haft

  • Lesedauer: 4 Min.

Istanbul. In Istanbul ist am Donnerstag der Prozess gegen den »Welt«-Korrespondenten Deniz Yücel in Abwesenheit fortgesetzt worden. Gleich zum Auftakt der Anhörung im Istanbuler Justizpalast Caglayan forderte Yücels Anwalt Veysel Ok den sofortigen Freispruch seines Mandanten, wie im Kurzbotschaftendienst Twitter die Medienrechtsorganisation MLSA mitteilte, der Ok angehört. Yücel war im Februar nach einem Jahr in Untersuchungshaft freigelassen worden und nahm nicht an der Anhörung teil.

Der Anwalt erinnerte laut MLSA daran, dass sich Yücel Mitte Februar 2017 freiwillig zur Polizei begeben habe, nachdem er aus den Medien erfahren hatte, dass gegen ihn im Zusammenhang mit Enthüllungen der Hackergruppe Redhack zu Energieminister Berat Albayrak ermittelt werde. Bei der Vernehmung durch die Polizei sei er aber nicht zu diesem Thema, sondern zu Artikeln befragt worden, die er in der Zeitung veröffentlicht hatte.

Auf dieser Grundlage sei er in Untersuchungshaft genommen worden, kritisierte Ok laut der Mitteilung von MLSA. Erst nach einem Jahr in Haft sei eine zweieinhalbseitige Anklageschrift vorgelegt worden, die keinerlei zusätzliche Beweise enthalten und ausschließlich auf seinen Artikeln beruht habe. Die Anklageschrift sei damit »eine große Enttäuschung« für die Verteidigung und die Öffentlichkeit gewesen, sagte Ok.

Die Staatsanwaltschaft hatte erst am Tag von Yücels Haftentlassung am 16. Februar eine Anklageschrift vorgelegt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte Yücel einen Terroristen und einen deutschen Agenten genannt.

Die Anhörung am Donnerstag begann erst mit mehrstündiger Verspätung. Bei einer ersten Anhörung in dem Fall Mitte Februar hatte das Gericht die Anklageschrift angenommen und die Freilassung von Yücel angeordnet. Da keine Ausreisesperre erlassen wurde, konnte der deutsch-türkische Journalist noch am selben Tag die Türkei verlassen. Trotz seiner Ausreise geht aber der Prozess in Istanbul gegen ihn weiter.

Yücel wird von der türkischen Justiz wegen seiner Artikel »Volksverhetzung« und »Terrorpropaganda« vorgeworfen. Laut seinem Anwalt drohen ihm bis zu 18 Jahre Haft. Der Fall hat das deutsch-türkische Verhältnis massiv belastet. Die Bundesregierung setzte sich seit Yücels Festnahme für seine Freilassung ein, doch verging ein ganzes Jahr, bevor die Anklage veröffentlicht und der Fall vor Gericht gebracht wurde.

Vor der neuen Anhörung forderte Reporter ohne Grenzen die Einstellung des Prozesses. Er sei eine »Farce«, alles andere als ein Freispruch wäre »unerträglich«, erklärte die Organisation. Die LINKEN-Abgeordnete Sevim Dagdelen forderte am Donnerstag ebenfalls einen Freispruch. In der Türkei herrsche eine »Willkürjustiz«, Journalismus sei »kein Verbrechen«, mahnte die Vize-Fraktionsvorsitzende.

Die Inhaftierung von Yücel und anderer Deutscher - darunter der Menschenrechtler Peter Steudtner - hatte im vergangenen Jahr zu einer Krise zwischen Berlin und Ankara geführt. Steudtner konnte im Oktober ausreisen, aber gegen ihn und weitere Menschenrechtler geht in Abwesenheit ein Gerichtsprozess weiter.

Steudtner sagte der dpa vor Beginn des Prozesses gegen Yücel, das Verfahren sei dem gegen ihn selbst ähnlich: »Es ist völlig ungerecht und es gibt keine Beweise.« Menschenrechte wie die Pressefreiheit seien Grundgedanken der Zivilisation, deshalb müsse die Anklage sofort fallengelassen werden, forderte er. In der Türkei sitzen zahlreiche Journalisten im Gefängnis. Unter dem nach dem Putschversuch von 2016 ausgerufenen Ausnahmezustand ließ Staatspräsident Erdogan zudem Medien per Notstandsdekret schließen.

Noch immer sitzen mehrere Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei in Haft. Erst am Dienstagabend hatte ein Gericht im westtürkischen Edirne Untersuchungshaft gegen eine Kölnerin mit kurdischen Wurzeln verhängt, wie ihr Anwalt Hasan Tahsin Kaya der dpa am Mittwoch sagte. Ihr wird demnach Mitgliedschaft in der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen, die in der Türkei, der EU und den USA als Terrororganisation gilt. Die Sängerin war am Freitag, kurz vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am Sonntag, auf einer Wahlkampfveranstaltung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP festgenommen worden.

Ein Gericht in Istanbul hatte am Mittwoch unterdessen die Entlassung des regierungskritischen Journalisten Mehmet Altan aus der Untersuchungshaft angeordnet. Altan war 21 Monate lang inhaftiert. Agenturen/nd

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