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Mit Antifußball ins Viertelfinale

Russland wirft Spanien mit einem Sieg im Elfmeterschießen aus dem Turnier

Es war Antifußball, aber sei’s drum: Russland feierte in der Nacht zum Montag sein Fußballwunder. Mit einem 4:3 im Elfmeterschießen warfen die Männer von Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow tatsächlich den Weltmeister von 2010, Spanien, aus dem Turnier. Dass es in 120 Minuten kaum Torschüsse gegeben hatte, weder von den Spaniern mit ihrem bis zum Erbrechen zelebrierten Ballbesitzfußball, und schon gar nicht von den Russen, die ihr Tun allein auf die Verhinderung von Gegentoren ausgerichtet hatten - wen interessierte das am Ende?

Die 78 000 Fans im Luschniki-Stadion jedenfalls nicht. Als Igor Akinfejew tatsächlich den letzten Elfmeter von Iago Aspas über sein Tor gelenkt hatte, erreichte ihr Jubelsturm eine Dezibelzahl, mit der er fast die Internationale Raumstation erreicht hätte. Im Weltraum wurde wirklich mitgefeiert, wie ein Videoclip von der ISS zeigte, in dem man die Kosmonauten Oleg Artemjew und Sergei Prokopjew vor einem Notebook schweben und »Dawaj, dawaj!« (Los, los) rufen sieht. Im Stadion jubelte Eishockeystar Sergej Owetschkin mit. Der Stanley-Cup-Gewinner war beim großen Sieg der Fußball-Sbornaja im Luschniki ebenfalls zugegen.

Ein historischer Abend, der den Halbfinaleinzug bei der EM 2008 wohl noch in den Schatten stellt: Russland tritt nun im Viertelfinale gegen Kroatien an, in einem Turnier, aus dem sich mittlerweile Titelverteidiger Deutschland, Europameister Portugal, Vizeweltmeister Argentinien und eben die Spanier verabschiedet haben. Wie Artjom Dsjuba, Sergei Ignaschewitsch, Alexander Golowin und Co. ihr Wunder am Sonntag erreichten, dürfte zwar kaum für Begeisterung bei Fußballliebhabern gesorgt haben. Warum sollte es aber nur den Rehakles-Griechen gestattet sein, die Fußballwelt mit Defensivfußball auf den Kopf zu stellen?

Nationaltrainer Tschertschessow sprach später jedenfalls zufrieden über die Taktik, die er seinen Mannen verordnet hatte. Man habe gegen die spielstarken Spanier »nicht riskieren« wollen anzugreifen. Eine Marschroute, die sein Team bis zum Exzess durchzog: Elf Mann postierten sich mehr oder weniger um den eigenen Strafraum, ab und an zog man sich sogar fast komplett ins Innere der »Box« zurück. Den Ball gab’s gerne in hohem Bogen nach vorn geschlagen, wo sich allerdings nur im Ausnahmefall ein Abnehmer fand.

Die Spanier hingegen spielten sich den Ball unglaubliche 1137 Mal zu, 1031 Pässe kamen sogar beim Adressaten an. Zu einem eigenen Treffer indes reichte es nicht für den großen Andres Iniesta und seine Kollegen. Das frühe 1:0 war ein Eigentor, für das Russlands Ältester, der 38-jährige Ignaschewitsch, gesorgt hatte: Bei einer Freistoßhereingabe nach nur vier Minuten lenkte er den Ball im Fallen ins eigene Netz. Die Russen, die auch nach dem frühen Rückstand ihre Komplettdefensive nicht auflockerten, brauchten wiederum einen Elfmeter, den Dsjuba in der 41. Minute sicher versenkte.

Ansonsten: Ballstafetten hier, Abwehraktionen da, aber kaum Torraumszenen. Die FIFA-Statistik erfasst den Ballbesitz in neun verschiedenen Segmenten: Spanien kam in dem Neuntel rings um den Mittelpunkt auf erstaunliche 31 Prozent. Doch von der Mittellinie lassen sich am Ende schlecht Tore erzielen. Auch wenn man den Ball quasi dauerhaft sein eigen nennt. Die Entlassung des Nationaltrainers Julen Lopetegui nur 48 Stunden vor Turnierbeginn rächte sich spätestens an dieser Stelle. Und natürlich auch, dass im Elfmeterschießen gleich zwei Spanier vom Punkt versagten: zuerst Koke und schließlich Aspas, dessen Schuss Torwart Akinfejew allerdings auf wahrlich artistische Weise mit dem Fuß abfing.

Und so wurde an diesem Moskauer Abend wieder ausgiebig gefeiert, in den Metros, auf den großen Plätzen und an der Nikolskaja Straße, der inoffiziellen Moskauer Partymeile nahe des Roten Platzes, wo sich die Moskauer Nacht für Nacht mit den »Innostranzij« (Ausländern) verbrüdern. Jene Straße, in der sich die Gäste leider auch immer öfter vergreifen: Sexuelle Belästigung sei dort mittlerweile allgegenwärtig, berichtet die englischsprachige Internetzeitung »Moscow Times«, deren Reporterin sich im Selbstversuch etlicher unangenehme Berührungen und Anmachen zu erwehren hatte.

Über die breiten Prospekte der Hauptstadt rasten Fans mit wehenden Fahnen und Hupkonzerten. Auch in anderen Städten wurden Autokorsos abgehalten - zur Feier des »größten Sieges einer russischen Nationalmannschaft«, wie die Zeitung »Kommersant« schrieb. Die Blätter können mittlerweile kaum noch an sich halten: »Hurraaaaaaa!« jubelte der »Sport-Express«. Und erklärte: »Ja, liebe Freunde! Vor uns steht die absolut beste Sbornaja Russlands der Geschichte! Es ist wahrscheinlich schwer zu glauben, aber wir stehen im Viertelfinale der WM. Und es entsteht nicht der Eindruck, dass wir es dabei belassen. Spanien, Deutschland, Argentinien mit Messi und Portugal mit Ronaldo fahren nach Hause - und wir ziehen weiter. Wir haben vor niemandem mehr Angst. Wir besiegen alle. Heute dürfen wir so denken!«

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