• Politik
  • Protest vor dem NSU-Prozess

»Wie ein Schlag ins Gesicht«

Der Tag der Urteilsverkündung vor dem Gericht an der Nymphenburger Straße

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist neun Uhr an diesem historischen Tag vor dem Münchner Justizgebäude an der Nymphenburger Straße und am Himmel wechseln sich dunkle Wolken und Sonnenschein ab. Der Eingang zum Gerichtssaal A101, in dem die Urteile im NSU-Prozess verkündet werden, ist geradezu belagert von wartenden Fernsehteams und Journalisten. In der vorbeiführenden Straße findet die ganztägige Kundgebung des antifaschistischen Bündnisses »Kein Schlusstrich« statt, überall sind Polizisten zugegen. An einem der Absperrgitter lehnen Schilder und auf ihnen ist zu lesen. »Triorisierung beenden«, das »o« ist dabei ein Blutfleck. Damit ist angesprochen, um was es heute geht: Um das Urteil in einem Neonazi-Prozess, der keine Netzwerke und Hintermänner kennen will. In gut zwei Stunden wird hier Alexander Hoffman, ein Anwalt der Nebenklage diese Urteile als »Katastrophe« bezeichnen.

Noch aber liegt Spannung über der Szene an der Ecke Nymphenburger/Sandstraße mit all den Journalisten, Polizisten und Antifaschisten. Schräg gegenüber dem Justizzentrum sind an der Straßenecke vier furchterregende Wölfe aus Bronze zu sehen - der Künstler Rainer Opolka will damit auf die Gefahr des Rechtsextremismus hinweisen. »Wölfe bitte nicht füttern«, ist auf einem Plakat zu lesen, und: »Nationalismus gebiert Gewalt. Europa sei wachsam.«

Beim Justizzentrum auf der anderen Straßenseite stehen noch immer Menschen in einer Schlange an, um auf die Besuchertribüne des Gerichtssaals zu kommen. Dass dieser Saal viel zu klein war, um auch nur alle Pressevertreter aufzunehmen, sorgte schon bei Beginn des Prozesses vor fünf Jahren für Aufregung. Drinnen verliest Richter Manfred Götzl gerade das Urteil.

Es ist fünf Minuten nach zehn, als die ersten Informationen aus dem Gerichtssaal nach draußen dringen. Eine Sprecherin von »Kein Schlussstrich« gibt über das Mikrofon das Urteil für Beate Zschäpe bekannt: Lebenslänglich und besondere Schwere der Schuld. Unter den rund 300 Teilnehmern der Kundgebung herrscht weitgehend Schweigen. Doch die milden Urteile für die anderen Angeklagten stoßen die Menschen hier vor dem Kopf. »Das haut natürlich rein«, sagt einer der Teilnehmer. Etliche sind von weit her zur Urteilsverkündung gekommen, etwa die fünf Leute der »Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg«. Einer hält ein Schild hoch, »Rassismus und rechte Gewalt bekämpfen«, ist darauf zu lesen. Dann kommentiert Patrycja Kowalska, Sprecherin der Kampagne »Kein Schlussstrich«, das Urteil für die NSU-Unterstützer Ralf Wohlleben (zehn Jahre Haft), André E. (zwei Jahre und sechs Monate) sowie Holger G. (drei Jahre): Das sei eine schockierende Nachricht und »ein Schlag ins Gesicht von Angehörigen und Antifaschisten«, damit habe das Gericht die Trio-These bestätigt. Kowalska ins Mikrofon: »Wir verurteilen das Gericht, Wir werden anklagen. Kein Schlussstrich!«

Derweil geht die Urteilsverkündung weiter. Draußen entsteht etwas Unruhe, als ein kleines Grüppchen Rechtsradikaler vorbeizieht. »Haut ab«, schallt es ihnen entgegen und unter Polizeischutz verziehen sie sich in einen nahen Biergarten, werden aber dort nicht bedient und verschwinden schließlich. Mittlerweile ist auch Petra Pau, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, vor dem Justizzentrum aufgetaucht. »Es darf heute keinen Schlussstrich geben«, betont auch die LINKE-Abgeordnete gegenüber »nd«. Die rechten Netzwerke seien noch immer aktiv, man müsse weiter für eine kritische Öffentlichkeit sorgen und die Aufklärung vorantreiben, es könne nicht nur bei diesem einen Prozess bleiben.

Mittlerweile ist es sieben Minuten nach elf, als einige der Rechtsanwälte von Beate Zschäpe aus dem Justizgebäude kommen. »Das Urteil ist nicht tragfähig zu begründen«, sagt Rechtsanwalt Wolfgang Heer, einer der »Altverteidiger« von Zschäpe. Und: »Wir werden das Urteil anfechten.« Und er brauche jetzt eine Pause, sagt Heer, während er sich eine Zigarette anzündet. Seine Kollegin Anja Sturm gibt derweil anderen Journalisten ein Interview, nur der dritte im Bunde, Wolfgang Stahl, lässt sich nicht blicken. Stahl, Sturm, Heer - auch diese martialisch klingenden Namen der Pflichtverteidiger sorgten im NSU-Prozess für Aufmerksamkeit.

Um 11.15 Uhr schließlich betritt Rechtsanwalt Alexander Hoffmann die Bühne von »Kein Schlussstrich«, er vertritt die Opfer der Keupstraße in Köln. Und auch er spricht von den Urteilen als einem »Schlag ins Gesicht« derer, die Aufklärung forderten und kritisiert die »sehr milden Strafen« für die Unterstützer. Bei Wohlleben könne es sein, dass er bis zur Revision »hier als freier Mann herausgeht«. Wütend wird der Rechtsanwalt bei dem Urteil für E.: »Für einen Steinwurf beim G20 gibt es mehr!« Das Ziel dieser milden Urteile sei es, so Hoffmann, damit die Lüge vom Trio als alleinige Täter aufrecht zu erhalten. Angesichts der politischen Situation mit der Entsorgung des Asylrechts durch die CDU/CSU und dem Aufstieg der AfD sei diese Rechtsprechung eine Katastrophe. »Man will einen Schlussstrich ziehen«, so Hoffmann, »das ist die Botschaft dieses Urteils«.

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