Blick aus dem Abgrund

Das NSU-Verfahren hat historische Bedeutung - doch im Fernsehen herrscht Normalbetrieb

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 3 Min.

Mitte dieser Woche ging der Prozess gegen die Mitglieder der terroristischen Vereinigung NSU zu Ende. Man kann dieses Verfahren bezüglich der Bedeutung, die die Taten wie das juristische Aburteilen für diese Gesellschaft haben, in eine Reihe mit den Auschwitz-Prozessen und dem Prozess gegen die RAF-Terroristen in Stammheim stellen.

Vor Gericht stand aber auch die Staatsgewalt. Während des fast fünf Jahre dauernden Verfahrens zeigte sich, dass der Verfassungsschutz eine Rolle bei den Morden spielte, die weit über die der Mitwisserschaft hinausgeht. Die Feststellung der Mittäterschaft muss aber deshalb im Spekulativen bleiben, weil das Gericht, die Politik, der Staat, also alle drei Gewalten in dieser Gesellschaft, wenig bis kein Interesse daran zeigten, die Hintergründe auszuleuchten, und sich daher als unwillig und unfähig erwiesen, die politische Tragweite, die menschliche Tragödie und die historische Bedeutung des Verfahrens zu erfassen.

Wenige Tage vor der Urteilsverkündigung sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU): »Wir haben in den Abgrund geschaut.« Schäuble meinte aber nicht den Prozess, sondern den Asylstreit in der Union und die dadurch ausgelöste Regierungskrise. Zu Beginn des Asylstreits verging keine Woche, in der in den gängigen Politplauderrunden im Fernsehen nicht über den Asylstreit in der Union geredet wurde. Anne Will unterbrach gar ihre Sommerpause für dieses Thema. Jetzt schweigt sie ebenso wie Frank Plasberg, und auch Sandra Maischberger sprach am Donnerstag mit ihren Gästen lieber über die Frage, ob Europa angesichts des Streits mit den USA mehr militärisch aufrüsten müsse. Sie alle schweigen ausgerechnet dann, wenn reden angebracht wäre. Reden darüber zum Beispiel, dass ein deutscher Innenminister einen Tag vor dem Richterspruch stolz verkündete, an seinem 69. Geburtstag seien 69 abgelehnte Asylbewerber nach Afghanistan abgeschoben worden. Reden darüber, dass der gleiche Politiker wenige Tage später, als bekannt wurde, dass einer der Abgeschobenen sich in Kabul erhängt hat, nur das Gestammel über die Lippen bekam, der Vorfall sei »zutiefst bedauerlich«. Oder reden darüber, ob solcherart Reden eines Regierungspolitikers nicht ebenjene diskursive Grundlage in der Gesellschaft schaffen, aus dem Terrorgruppen wie die des NSU erst entstehen konnten (und weiterhin können!).

Ja, wir haben in den Abgrund geschaut - und ein Höchstmaß an Empathieunfähigkeit und moralischem Versagen gesehen.

Doch es gibt Hoffnung. Wir müssen nur den Blick vom dunklen Schlund abwenden und nach oben schauen. Am Tag des Richterspruchs benannten jene Deutschen, denen die ersten beiden Sätze im ersten Artikel des Grundgesetzes wichtig sind, überall in Deutschland Straßen nach den zehn bislang bekannten NSU-Opfern um. Würden die zuständigen Kommunen das Grundgesetz ebenso ernst nehmen, würden sie die Umbenennungen nachträglich anerkennen. Zur Erinnerung, Herr Seehofer, die besagten Sätze lauten: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«

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